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Betrachtungen über den Teufel
 

Ein Vortrag von Kassapa

 

Mara greift den Buddha an
Votiv-Tafel im Museum für indische Kunst Berlin-Dahlem


Liebe Leute,
habt ihr schon einmal erlebt, dass man einen buddhistischen Mönch bezichtigt hat, mit dem Teufel im Bunde zu stehen? Ich aber, und wie sich das zugetragen hat, will ich euch nun erzählen.

Vor vielen Jahren, als ich noch buddhistischer Mönch war, hatte ich mich mit einem Psychotherapeuten angefreundet. Er hielt große Stücke auf mich, und eines Tages lud er mich zu einer Gruppentagung seiner Klienten ein. Wir machten allerhand seelenheilenden Hokuspokus, und ich durfte sogar als Ko-Therapeut mitwirken. Es waren auch Fromme mit von der Partie. Misstrauisch beäugten sie mich: irgend etwas musste an solch einer glatzköpfigen, gelbgewandeten Figur doch faul sein. Andere wieder blickten zu mir auf, wie zu etwas Heiligem.

Nun ging das Modellieren los. Jeder nahm sich einen Stück Ton und machte sich darüber her. Ratlos schaute ich umher und wandte mich schließlich an meine Sitznachbarin, eine dicke Kölsche: "Was soll ich mit diesem schmierigen Klumpen bloß anfangen? Hast du keine Idee?" Sie antwortete breit und gedehnt: "Maach doch 'ne Engelche, du bös doch 'ne hillige Mann, dat moss du doch könne!" Mir fiel nichts besseres ein, und so ging ich denn ans Werk. Das Engelchen wuchs unter meinen Händen. Kopf, Arme, Rumpf, Beine - alles entstand wie von selbst, wirklich nett. Aber die Flügel! Immer wieder zerdrückte ich sie, und immer wieder wurden Fledermausflügel daraus, als ob eine bösartige Macht meine Hände gelenkt hätte. Am Ende gefielen sie mir sogar, und ich ließ sie stehen. Bloß alles andere passte jetzt nicht mehr. Ungestüm knetete ich dem Engelchen an der Figur herum und empfand einen wahnsinnigen Spaß an der Verwandlung, die es unter meinen Händen durchmachte. Endlich war das Kunstwerk fertig, und es war alles daran: ein allerliebstes Engelsgesichtchen, neckische Löckchen auf dem Kopf, dazu Hörner, Pferdefuß, Kringelschwanz und die prächtigen Fledermausflügel. Im Hochgefühl meines Künstlertums steckte ich mir eine Zigarette in den Mund und setzte ein Streichholz in Brand. Sogleich aber fiel mir ein, dass heilige Männer ja nicht rauchen dürfen, und ich steckte die Zigarette wieder weg. Der Schwefelgeruch von dem Streichholz aber lag in der Luft und passte wunderbar zu meinem Engelteufelchen. Der Therapeut kam herein, sah mein Kunstwerk und strahlte: "Oh, sieh an, er akzeptiert den Teufel in sich!" Nun aber blickten die anderen auf, sahen das Teufelchen und rochen den Schwefel. Die Frommen warfen mir giftige Blicke zu, einige bekreuzigten sich, und es erhob sich ein Raunen: "Er ist mit dem Teufel im Bunde, er ist mit dem Teufel im Bunde!" Und dazwischen die Kölsche: "Schmießt dä Kääl doch erus!" So weit ließ ich es nicht kommen. Ich verduftete mich eiligen Schrittes durch die Vordertür und rauchte zuerst einmal selbstzufrieden meine Zigarette. Inzwischen hatten sich die Wogen geglättet, und ich schlich mich durch die Hintertür wieder herein, ebenso dreist und frech, wie sich der Teufel durch das Hintertürchen in unsere schwarzen Seelen einschleicht.

Aber mit dem Teufel im Bunde zu stehen - das lasse ich nicht auf mir sitzen! Bisher bin ich noch nicht in die Verlegenheit geraten, ihm meine Seele zu verschreiben und diesen Pakt mit einem Tropfen Blut zu besiegeln, wie es Goethes Dr. Faust getan hat.

Der leibhaftige Schwarze ist nur ein Fantasiegespenst, aber es bestand die Notwendigkeit, ihn zu erfinden. Gottes Schöpfung gilt zwar als Wunderwerk, aber trotzdem knarrt es in ihr an allen Ecken und Enden. Eine Panne jagt die andere, eine Katastrophe folgt der anderen. Und das soll das Werk eines allgütigen, allweisen und allmächtigen Gottes sein? Aber was nicht sein darf, kann nicht sein, und so musste der Teufel erfunden werden als diejenige Kraft, die immer wieder Sand ins Getriebe der göttlichen Schöpfung streut. Und die Menschen, diese missratenen Kreaturen, widersetzen sich ebenfalls dem göttlichen Plan und stellen sich taub gegen Gottes Gebote. Ist ihnen dafür nicht die Hölle gewiss? Doch warum eigentlich? Ist es der Schöpfer nicht selbst, der die Menschen so geschaffen hat, wie sie sind? Trägt er darum nicht die Verantwortung für ihre Missratenheit? Doch nochmals - es kann nicht sein, was nicht sein darf, und darum muss ein Sündenbock her, dem man die ganze Schuld für göttlichen Dilettantismus in die Schuhe schiebt - der Teufel.

Wenn man darüber nachdenkt, könnte man irre werden. Was ist Gottes Werk, was ist Teufelswerk? Wieder sind es die bösen Menschen, die keine teuflischen Schauermärchen mehr glauben wollen und aus dem Teufel längst eine Witzblattfigur gemacht haben. Den Teufel als Symbolgestalt kann man verlachen, nicht aber unsere dunklen Seelenanteile, für die er steht. Sie sind es, die uns ins Unglück stürzen. Durch Gier, Hass und Dummheit ist ein Wechselspiel der Egoismen entstanden, die im Begriff sind, die Welt zu zerstören und somit unsere Lebensgrundlage. Da sitzt der wahre Teufel, nur mit neuen Gesinnungen können wir ihn austreiben.

Wenn wir das universale Gesetz von Bedingung und Folge anerkennen und auf eine Weise leben, die das Wohl aller Wesen im Auge hat, kann uns weder der Teufel holen noch Gottes Zorn treffen. Auch Gott ist nur eine Erfindung des Menschengeistes und es lässt sich wunderbar leben, auch wenn man nicht an ihn glaubt. Es ist die Haltung eines reifen Menschen, der um die Tragweite seines eigenen guten oder üblen Handelns, Redens und Denkens weiß und die Verantwortung dafür übernimmt. Besinnen wir uns auf unsere positiven Geistesanteile und handeln wir in ihrem Sinne, gehen von uns Schwingungen aus, für die alle guten Wesen im All empfänglich sind. Das Gefühl der Ich-Versonderung vergeht und wir fühlen uns als Teil eines Netzwerkes heilbringender Kräfte, so dass wir weder Gott noch Teufel zu fürchten brauchen.

Wenn schon Gott und Teufel mythologische Gestalten sind, dürfen wir auch einen Schritt in die indische Mythologie wagen. Die Buddhalehre kennt keinen Hochgott als Schöpfer und Weltenlenker. So weit wir auch zurück schauen in die Vergangenheit, wir finden keinen primus motor, keinen ersten Bewegungsimpuls. Selbst der Urknall ist kein absoluter Anfang, auch er hat seine Ursachen. Zu Recht fragt die Buddhalehre weder nach einem Ur-Anfang noch nach der Existenz eines Hochgottes. Das unpersönliche Weltgesetz ist eben da und muss unsere Richtschnur sein. Wenn auch im buddhistischen Denken ein Hochgott keinen Platz hat, erkennt es doch die Existenz von hohen und niedrigen Gottwesenheiten an, die ihre eigenen Daseinswelten bevölkern. Sie leben viel länger als die Menschen und in einer Glückseligkeit, die nur derjenige kennt, der in fortgeschrittenen Stadien der Meditation die gleiche Glückseligkeit erfahren hat. Menschen können, wenn ihre Verdienste ausreichen, nach ihrem Tod als Götter wiedererscheinen, doch auch die Götter sterben einmal, solange sie auch leben mögen. Die allerhöchsten körperlosen Gottheiten sollen 84 000 große Weltzeitalter lang leben. Ihre Sphären werden von Weltuntergängen und Weltentstehungen nicht berührt. Und doch sind auch diese Gottheiten bloß eine Art höherer Menschen. Sie haben keine Macht über das Schicksal der Wesen, d.h. sie können ihnen nicht die Folgen ihrer guten oder üblen Taten abnehmen. Taten, Worte und Gedanken belohnen oder bestrafen sich selbst aufgrund der willentlichen Triebkräfte, die ihnen zugrunde liegen und über den Tod hinaus wirken. Dies geschieht nach eiserner Gesetzmäßigkeit, die nicht einmal übermenschliche Wesen durchbrechen können. Darum müssen wir sorgsam auf unsere Taten, Worte und Gedanken achten, wenn wir in diesem Leben, im nächsten oder in irgend einem späteren Leben keine unerwünschte Tatfolgen erleiden wollen. Je nachdem, wie stark die Kraft übler Taten, Worte und Gedanken überwiegt, können wir sogar in der Hölle landen. Seltsam! Droht der Buddhismus etwa auch den Menschen mit Höllenstrafen, damit sie nur ja ganz brav dahinleben? Erstens handelt es sich hier um indische Kosmologie, doch zweitens ist die Auffassung gar nicht so abwegig, dass es Daseinsbereiche gibt, in denen die Folgen übler Tat den Wiedergeborenen so massiv treffen, dass es höllische Formen annimmt. Wenn Massenmörder wie zum Beispiel Hitler, Stalin, Himmler und wie sie nicht alle heißen, den Tod von Millionen auf dem Gewissen haben, ist es unsinnig, anzunehmen, dass mit ihrem Tod am Galgen, unter dem Fallbeil, durch Erschießen, auf dem elektrischen Stuhl oder mit der Giftspritze alle Schuld getilgt sei. Das Potential vergangenen Wirkens, sprich Karma, ist so stark, dass es nur zur Transformation in ein Unglückswesen führen kann, das in niederer Welt unsagbare Leiden auszustehen hat. Im alten Indien nahm man die Existenz von Höllenwelten als reale Gegebenheit an, während der moderne Mensch höchstens geneigt ist, die Höllenwelten symbolhaft zu verstehen. Eine ewige Verdammnis gibt es im Buddhismus nicht. Ist die Kraft vergangener Übeltaten verwirkt, stirbt das Höllenwesen und wird in glücklicherer Welt wiedergeboren. Menschliche Geburt ist nicht ausgeschlossen.

Bevor wir uns weiteren mythologischen Betrachtungen zuwenden, ein Blick in das Auf-und-Ab des Daseinsprozesses. Nach buddhistischer Auffassung hat der Daseinsprozess, wie bereits erwähnt, keinen auffindbaren Uranfang und kein bestimmtes Ende. Ganze Universen entstehen und vergehen und neue bilden sich durch die Kräfte, die durch den Untergang vorheriger Universen frei werden. Ebenso ist es mit dem Sterben und Wiedererscheinen lebender Wesen. Unendlich viele Male haben wir schon gelebt und werden noch unendlich viele Male leben, solange wir den Absprung aus diesem Stirb-und-Werde nicht gefunden haben. Während der vielen Leben, die wir schon hinter uns haben, haben wir glückliche und unglückliche Welten durchwandert. Das nicht enden wollende Umherwandern in diesem Prozess erscheint dem Einsichtigen keinesfalls wünschenswert, darum die Suche nach dem Ausweg. Der Ausweg besteht in einer Schulung, die durch einwandfreies Verhalten, geistige Sammlung und tiefen Einblick in die Natur der Dinge von einer Teilerkenntnis zur anderen führt, bis in der großen Erleuchtung die totale Leidfreiheit, Nirvāna, erkannt und erfahren wird und jeder Trieb nach neuem Dasein erlischt. Dann gibt es keine Wiedergeburt mehr. Danach zu streben erscheint dem Verständigen als das einzig Sinnvolle.

Die Hölle ist die tiefste Ebene, auf die wir nach indischer Kosmologie absinken können. Es gibt deren viele, von denen stufenweise eine schlimmer als die andere ist. Die schlimmste ist die Avīci-Hölle. Avīci heißt "ununterbrochen', denn ununterbrochen ertönen die Schreie der dort leidenden Wesen. Taten, die unweigerlich zur Hölle führen, sind Muttermord, Vatermord, Mord an einem Arahant (d.i. jemand, der Nirvāna erreicht hat), böswillige Verletzung eines Buddha und Verursachung einer Spaltung des Mönchsordens. Darüber hinaus gibt es drei falsche Ansichten mit unmittelbarem Ausgang, d.h. wer hartnäckig an ihnen festhält, erwirkt sich ebenfalls die Hölle. Es handelt sich um die fatalistische Ansicht von der Ursachenlosigkeit des Daseins, die Ansicht von der Wirkungslosigkeit der Taten und den Nihilismus. Die Ansicht von der Ursachenlosigkeit des Daseins behauptet, es gäbe keine Ursache für die Verderbtheit oder Reinheit der Wesen, alles sei genau vom Schicksal vorbestimmt. Sie verführt die Menschen zur Passivität und zum Fatalismus, so dass sie die Chance, sich zur befreienden Einsicht durchzuringen, verpassen. Die Ansicht, Taten hätten keine Wirkung, erstellt einen Freibrief für die schlimmsten Verbrechen. Der indische Nihilismus behauptet, jeder Glaube an gute Taten und ihre Wirkung sei ein Wahn. Kein Weiterleben gebe es nach dem Tod, sondern der Mensch löse sich nach dem Tod in die Elemente auf. Diese Ansicht verleitet zur absoluten Zügellosigkeit.

Welche Bedeutung hat nun der Buddha als Wesen? Von ihm heißt es, er sei der Wesen höchstes und selbst den höchsten Göttern an Weisheit und Geisteskraft weit überlegen. Im Khandha-Sutta, einer Rede zum Schutz gegen Giftschlangen und anderes gefährliches Getier, heißt es: "Grenzenlos ist der Erwachte, grenzenlos ist seine Lehre, grenzenlos ist seine Gemeinschaft, begrenzt aber sind Kriechtier, Schlange, Skorpion und Hundertfüßler, Spinne, Eidechse, Maus. Ich bin nun gesichert, bin nun geschützt; weichet ihr Wesen zurück! Verehrung dem Erhabenen, Verehrung den sieben vollkommen Erwachten!" (Mit den sieben vollkommen Erwachten sind Buddhas der Vergangenheit gemeint.)

Mit der Schöpfung und Vernichtung von Welten und Wesen haben die Buddhas nichts zu tun; sie verkörpern in sich eine rein erlösende Kraft. Öffnen wir uns ihren Weisungen, kommt in uns ein Entwicklungsprozess in Gang, dessen Ende die Überwindung allen Leidens durch die große Erleuchtung ist. Die positiven Kräfte, die auf diesem Wege in uns wachsen, wirken schützend nach innen und außen. Gute Wesen im ganzen All erkennen sie und lassen uns in der Rückwirkung ihren Schutz angedeihen. Wohl können uns zu jeder Zeit Auswirkungen vergangener Übeltaten, d.h. üblen Karmas, treffen, doch sind wir bereit, es hinzunehmen. Das bedeutet inneren Frieden; Todesangst und Lebensangst schwinden mehr und mehr.

Aber - es gibt im All nicht nur gute, sondern auch böse Wesen, die darauf lauern, unsere Schwächen auszunutzen und uns "eins auszuwischen", sobald die Zeit dazu reif ist. Symbolisch ausgedrückt: Der Teufel liegt auf der Lauer. Er kann uns jedoch nur etwas anhaben, wenn wir uns von Gier, Hass und Verblendung zu falscher Tat hinreißen lassen und ihm somit eine Bresche öffnen. Während des Lebens kann alles glatt gehen, selbst dem übelsten Schurken, doch der Tod kommt gewiss und ist eine Verwandlung, mit der sich das Blatt wendet. Es gibt einen Absturz, und was man getan hat, muss man nun ausbaden. Auch auf diese Weise holt einen der Teufel - natürlich bildlich gesprochen.

Wohl hat auch der schlechteste Mensch lichte Seelenanteile, doch missachtet er sie oder lässt sie verkümmern, haben sie keine Chance, sich gegen das übergewichtige Dunkle durchzusetzen. Es liegt nur an uns selbst, ob wir es so weit kommen lassen oder nicht.

Wir haben bereits gesehen, dass auch der Buddhismus Höllenwelten kennt; kennt er auch einen Teufel? Ja, aber in ganz anderer Gestalt als das Christentum. Er heißt Māra und wohnt in einer Götterwelt, dem Tusita-Himmel. Er ist als übelwollende Gottheit Symbolgestalt für alles, was sich der Befreiung vom Leiden entgegenstellt: geistige Verschmutzungen, der Daseinstrieb in seiner Vielgestaltigkeit, das Gebundensein an die fünf Gruppen von Daseinsbestandteilen und schließlich der Tod. Kurz gesagt: unser Gefesseltsein an den Daseinsprozess mit den immer wiederkehrenden leidhaften Folgen - das ist Māra. Māra hat fünf Aspekte:
1.) als Göttersohn (Devaputta-Māra)
2.) als die geistigen Verschmutzungen (Kilesa-Māra)
3.) als die daseinsgestaltenden Triebkräfte (Abhisaṅkhāra-Māra)
4.) als die Daseinsgruppen (Khandha-Māra)
5.) Māra als der Tod (Maccu-Māra)

Dazu die Erklärungen:
1.) Māra als Göttersohn (Devaputta-Māra) ist, anders als der Satan des Christentums, eine mächtige, aber übelwollende Gottheit und Herrscher über das Reich der Sinnenlüste. In der Hölle zu hausen, dafür ist er zu vornehm, und als der leibhaftige Schwarze zu erscheinen, dafür ist er zu schlau, denn er will uns ja einfangen und nicht verschrecken. Das tut er, indem er uns jeden möglichen Sinnengenuss schmackhaft macht, damit wir an die Welt der Sinne gefesselt bleiben. Aus dem Angenehmen entsteht die Gier nach mehr und verleitet uns zu allen möglichen Verfehlungen in Werken, Worten und Gedanken, deren Folgen uns treffen und uns unter Umständen in höllischer Welt wiedererwachen lassen. Dass jeder Genuss seine leidvolle Kehrseite hat, verschweigt er wohlweislich. So ist er ein großer Täuscher und Betrüger. Als der spätere Buddha noch unter dem Bodhibaum um Erleuchtung rang, ließ Māra seine Töchter vor ihm auf die aufreizendste Weise herumtanzen, um ihn von seinem Weg abzubringen und wieder an das Reich der Sinne zu fesseln. Es gelang ihm aber nicht. Dem Buddha versuchte er nach dessen Erleuchtung einzureden, er habe das Todlose ja gar nicht gefunden. Der Buddha aber berührte die Erde mit seiner rechten Hand und rief sie so zum Zeugen an. Sie antwortete mit einem gewaltigen Erdbeben. So raffiniert Māra auch mit seinen Täuschungskünsten vorgehen mag, man kann ihn erkennen. Das aber erträgt er nicht und zieht trübselig wieder ab. Wir brauchen also bloß aufzupassen, damit wir ihn ertappen.

Ñāṇatiloka schreibt in seinem Buddhistischen Wörterbuch: "Māra, wörtl. 'Mörder' oder 'Tod' (offenbar verwandt mit nordisch mara, deutsch Mahr, lat. mors, lit. maras), ist die Personifikation der die Weltmenschen überwältigenden Leidenschaften und Begehrensobjekte. (Im Saṃyutta Nikāya XXII, 35 heißt es:) "Was da, Rādha, den Māra betrifft, so hast du dein Verlangen danach zu überwinden. Was aber ist Māra? Die Körperlichkeit ist Māra: da hast du das Verlangen danach zu überwinden. Gefühl - Wahrnehmung - Geistesformationen - Bewusstsein sind Māra, da hast du das Verlangen danach zu überwinden." Die dann weiter folgenden Sutten bezeichnen mit Māra alles Leidvolle, Unpersönliche, Hinschwindende, Versiegende usw.

2.) Das bezieht sich auf Māra im Allgemeinen. Betrachten wir nun speziell die Kräfte, die uns ins Unglück stürzen. Es sind die zehn Befleckungen unseres Geistes, Kilesa genannt und als Kilesa-Māra personifiziert. Die zehn Befleckungen oder Kilesas sind:
Gier lobha
Hass dosa
Verblendung moha
Dünkel māna
(falsche) Ansicht (micchā) diṭṭhi
Zweifel vicikicchā
Schlaffheit (des Geistes) thīna
Aufgeregtheit uddhacca
Schamlosigkeit ahirika
und Gewissenlosigkeit anottappa.

Unsere Psyche besteht aus vielen Einzelanteilen, zu denen auch die zehn Befleckungen gehören. Es gibt nichts Gutes, das aus ihnen entspränge. Das Gute, was wir tun, sagen oder denken, entspringt unseren lichten Geistesanteilen. Die Kilesas aber stacheln uns nur zu üblen Taten, Worten und Gedanken an, die uns abwärts zerren und als Tier, Hungergeist, eifersüchtiger Dämon oder Höllenwesen wiedererscheinen lassen. Von den persönlichen Folgen abgesehen, müssen wir auch die sozialen Folgen unseres Fehlverhaltens betrachten: die zerstörte Zwischenmenschlichkeit, die rücksichtslose Ausplünderung unserer Erde, die maßlose Profitgier auf der einen Seite, die wachsende Verarmung auf der anderen, die Zerstörung unserer Umwelt, die wachsende Verelendung der ehemaligen dritten Welt, Hunger, Krieg, Folter, Terror - alles Folgen von Māras Wirken. Was können wir dagegen tun? Unsere Kilesas erkennen, uns von ihnen befreien und uns somit weigern, nach Māras Pfeife zu tanzen. Ein Einzelner, der dies tut, ist immerhin besser, als gar keiner, und je mehr Menschen diesem Beispiel folgen, um so lichter wird es in der Welt.

3.) Nicht nur die Kilesas sind Māra, sondern sämtliche willentlichen Triebkräfte, die in der Pāli-Sprache 'Abhisaṅkhāras' genannt werden. Dieser Aspekt Māras heißt 'Abhisaṅkhāra-Māra', Māra der willentlichen Triebkräfte'. Was sind diese willentlichen Triebkräfte? Dasselbe wie Karma. Karma ist Wille (cetanā), der zu Taten, Worten und Gedanken antreibt, wie der Motor ein Fahrzeug. Die Karma genannten willentlichen Triebkräfte wirken über den Tod hinaus und führen zum Wiedererwachen als neues Wesen. Es gibt heilsame, unheilsame und unerschütterliche. Auch die heilsamen und unerschütterlichen Karmakräfte sind Māra. Sie bringen zwar nur Gutes und führen sogar zur Wiedergeburt als hochstehendes Wesen in glücklicher Welt, doch auch sie fesseln an den Daseinsprozess, und das Glück, das sie bringen, vergeht einmal, solange es auch dauern mag, und das ist eine leidige Tatsache. Dasein bringt unausbleiblich Geburt, Alter, Krankheit und Tod mit sich und somit körperlichen und geistigen Schmerz. Auch das glücklichste Dasein ist nicht frei davon und somit Māras Reich.

Heilsam, unheilsam und unerschütterlich, was heißt das? Die heilsamen willentlichen Triebkräfte sind gutartig und heilbringend für einen selbst, für andere und beiderseits. Für die unheilsamen trifft das Gegenteil zu. Sie wurzeln in Gier, Hass und Verblendung, während die heilsamen und unerschütterlichen in Gierlosigkeit, Hasslosigkeit und Unverblendung wurzeln. Die unerschütterlichen sind eine ganz hohe Form des Heilsamen und dasjenige Karma, das man sich durch die allerhöchsten Meditationen schafft. In ihrer Erhabenheit sind sie durch nichts mehr zu erschüttern. Sie führen zum Wiedererscheinen in den allerhöchsten Welten körperloser Gottheiten, die dort tausende von Weltzeitaltern in höchster Glückseligkeit verbringen. Doch auch diese Wesen sterben einmal, und so sind auch sie Māra verfallen.

Die weniger hohen heilsamen Karmakräfte äußern sich durch Freigebigkeit, Tugendstärke und meditatives Bemühen. Sofern der Betreffende keine meditativen Versenkungen erreicht, bewirken sie eine Wiedergeburt als Mensch oder Wesen der niederen Götterwelten. Hat er jedoch die sogenannten feinkörperlichen Versenkungen der ersten bis vierten Stufe (jhāna) erreicht, wird er in einer der Welten feinkörperlicher Gottwesen wiedergeboren und lebt dort mehrere Weltzeitalter, doch längst nicht so lange wie die körperlosen Wesen.

4.) Das Reich des Khandha-Māra, des Māra der Daseinsgruppen, erstreckt sich auf alles, was unsere Welt ausmacht: körperliche Gegebenheiten, Gefühle, Wahrnehmungen, willentliche Gestaltungskräfte und Bewusstsein (rūpa, vedanā, saññā, saṅkhāra und viññāna). Diese fünf Dinge sind die fünf Daseingruppen, in der Pāli-Sprache 'khandha' genannt. Wir sind geneigt, sie einzeln oder insgesamt als Ich oder Selbst aufzufassen oder sie für unsere Persönlichkeit zu halten, und damit erliegen wir einer Täuschung, an die wir uns hartnäckig zu klammern pflegen, und das ist Khandha-Māra, der Māra der Daseinsgruppen.

Es gibt natürlich noch differenziertere Einteilungen der Welt als in die der fünf Khandhas, wie zum Beispiel die Einteilung in die zwölf Sinnengrundlagen, in Pāli 'āyatana' genannt. Hierzu ein Vers, der die Welt, die wir selber sind, verständlich macht:

Die Welt, die du verkörperst, zwölf Dinge bilden sie:
Auge und Farben, Ohr und Töne, Nase, Gerüche, Zunge, Geschmäcke, der Körper und das Berührte.
Der Geist und seine Objekte, aus denen man sich Begriffe formt, nichts gibt es außer diesen zwölf.

Die Welt hat ein Innen und Außen. Das Innen sind die fünf Sinnesorgane und der Geist, das Außen die fünf Objekte der Sinne und die Geistobjekte. Geistobjekt ist alles, was der Geist erkennen kann, insbesondere aber alles, was man nicht sehen, hören, riechen schmecken und ertasten kann. Bewusstsein, ein Synonym für Geist, ist es, das diese Welt zusammenhält. Schwindet das Bewusstsein im Tode, fällt diese Welt auseinander. Sind die nötigen Karmakräfte vorhanden, bilden sie nach dem Tode ein neues Wesen, eine neue Welt. Sind sie nicht mehr vorhanden, bedeutet dies das endgültige Verlöschen. Etwas kompliziert wird die Sache mit Geist und Geistobjekten, weil in ihnen auch jene Bewusstseinsmomente enthalten sind, die Nirvāna direkt erkennen und erfahren, sowie Nirvāna selbst. Diese Dinge sind natürlich nicht Māra. Das ganze buddhistische Streben ist auf die Verwirklichung des Nirvāna, der totalen Leidfreiheit jenseits von Geburt und Tod, ausgerichtet, und mit ihm entwinden wir uns Māras Klauen Schritt für Schritt.

Das ganze Gebilde aus den fünf Khandhas, das wir "Person" nennen, befindet sich in ständiger Wandlung: Was soeben noch war, ist jetzt schon geschwunden und verändert. So ist jeder Moment ein kleiner Tod. Ein kleiner Tod jagt den anderen - und das Ende? Der große Tod. Warum nur kleben wir so an diesem Prozess der fünf Khandhas, die wir nach jedem Tod aufs neue ergreifen und somit eine neue Geburt erleben, die wieder im Tode endet? Aus Unwissenheit!

Wir übersehen stets, dass der Zahn der Vergänglichkeit alles zernagt. Ein junges Mädchen steht vor dem Spiegel und bewundert verzückt ihre Traumfigur. Warum ist sie so erpicht auf ihre Schönheit? Um der Männer willen! Māra ködert sie mit ihrer Begehrlichkeit. Wenn sie auch wüsste, wie schnell das vorbei ist! Irgend wann wird auch sie eine klapprige Greisin oder eine fettleibige Matrone sein, unter Umständen tief enttäuscht von dem Leben, das sie hinter sich hat.
Oder ein junger Mann treibt Sport und geht zum Bodybuilding. Mittlerweile ist er mit Muskelpaketen bepackt wie ein kleiner Gorilla. Er selber findet sich toll, andere aber fühlen sich durch seine Neandertalerfigur abgestoßen. Eitelkeit ist auch bei ihm die Triebfeder. Seine Gelenke sind überbelastet und verschleißen vorzeitig, weil sie den Muskelmassen nicht angepasst sind. Kommt es ganz schlimm, mag er eines Tages an Herzversagen sterben, weil seine inneren Organe für einen Menschen bemessen sind und nicht für einen Gorilla. Auch er ist Māra auf den Leim gekrochen.

5.) Der letzte Aspekt des Māra ist Maccu-Māra, der Māra des Todes. Man nennt ihn auch den Todesfürsten. Zum Tod sagt Ñāṇatiloka in seinem Buddhistischen Wörterbuch: 'Tod' gilt gemeinhin als das Schwinden der auf ein einzelnes Leben beschränkten Lebenskraft. ... Genau genommen aber ist Tod die sich beständig alle Augenblicke wiederholende Auflösung des jedesmaligen geistigen und körperlichen Zustandes. Über diese Momentaneität des Daseins heißt es im Visuddhimagga VIII: "Im höchsten Sinne haben die Wesen nur einen sehr kurzen Augenblick zu leben, nur solange, wie ein Bewusstseinsmoment dauert. Gleichwie das Wagenrad beim Rollen, wie beim Stillstehen sich jedes Mal bloß auf einem einzigen Punkt der Peripherie befindet; genau so währt das Leben der Wesen nur für die Dauer eines einzigen Bewusstseinsmomentes. Ist dieser erloschen, so ist auch das Wesen erloschen. Denn es heißt: 'Das Wesen des vergangenen Bewusstseinsmomentes hat gelebt, lebt jetzt nicht mehr, wird auch später nicht mehr leben. Das Wesen des zukünftigen Bewusstseinsmomentes hat noch nicht gelebt, lebt auch jetzt noch nicht, wird erst später leben. Das Wesen des gegenwärtigen Bewusstseinsmomentes hat früher noch nicht gelebt, lebt gerade jetzt, wird aber später nicht mehr leben.'"

In einem anderen Sinne mag man das Zustandekommen des geistigen und körperlichen Daseinsprozesses beim Abscheiden des vollkommen Erlösten als den letzten Tod bezeichnen, denn bis dahin war ja der Daseinsprozess noch immer von Leben zu Leben weiter gelaufen.

Was wir bisher über die Daseinsrealität gehört haben, ist nicht weltfeindlichem Pessimismus entsprungen, es ist die unleugbare, unabänderliche Realität, in die jeder verwoben ist und in deren Spinnweben wir vorerst noch zappeln. Es hat wenig Sinn diese Realität feindselig und trübselig anzustarren, denn wir haben ja Gelegenheit, uns Stück für Stück frei zu strampeln. Mit der Tatsache des Todes einverstanden zu sein ist eine große Erleichterung. Wir sind in der Lage, allen Dingen der Welt in ihrem Kommen und Gehen ohne Abneigung zu begegnen und sie ohne Bedauern an uns vorüber ziehen zu lassen, wenn ihre Zeit gekommen ist, ebenso wie man gute Freunde ziehen lässt, wenn sie gehen wollen. So entsteht eine liebevolle Verbundenheit mit den Dingen der Welt, die von jeder Art des Festhaltens frei ist. Diese nicht anhaftende, freundlich-hingebungsvolle Geisteshaltung führt wie von selbst zum Geben, zur Tugendstärke und zur Meditation, und so tun wir mit Freude jeden Schritt, der uns der großen Erleuchtung näher führt. Doch schon lange bevor wir dieses hohe Ziel erreicht haben, erleben wir ein wachsendes stilles Glück und eine Zuversicht, die uns nie mehr ganz verlässt.

 

 

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