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Die Lüge im Buddhismus |
I. Das Wesen des Buddhismus Ehe es sich lohnt, über die Stellung der Lüge im Buddhismus etwas zu sagen, muss man sich über das Wesen des Buddhismus klar werden. Buddhismus, das ursprüngliche reine Buddhawort, wie es im Pāli-Kanon dargelegt ist, ist Wirklichkeitslehre. Freilich sagen auch die Glaubensreligionen: Wir sind Wirklichkeitslehre! Wir lehren das Wesen der Wirklichkeit, das Göttliche, das Ewige, das an sich Seiende, gegenüber dem Vergänglichen, Wechselhaften; wir lehren das Sein gegenüber dem bloßen Werden." Das ist richtig, aber es fragt sich: Ist die Wirklichkeit denn ein Sein, dem als Gegensatz dieses sinnliche Werden, wie es uns überall als Vergänglichkeit entgegen tritt, gegenüber steht? Wir begeben uns damit auf die Wahrheitssuche, und Wahrheitssuche verlangt als Erstes und Wichtigstes, als Unerlässliches eines: die Unvoreingenommenheit. Der Wahrheitssucher, der nicht auf die Suche schlechthin, sondern auf die Gottsuche oder auf die Ewigkeitssuche geht, d.h. der mit von vornherein gebundener Marschroute auf die Suche geht und schon vorher weiss, was er zu finden hat, der ist kein Wahrheitssucher. Für den unvoreingenommenen, echten Wahrheitssucher gibt es nur eine Wahrheit: die Wirklichkeit, und nur ein Ziel der Wahrheitssuche: den Einklang mit der Wirklichkeit. Wirklichkeit ist Wirken! Jede andere Definition ist notwendig voreingenommen. Noch einmal: Wirklichkeit ist Wirken. Daraus etwas zu machen, das entweder bewirkt wird oder das selbstherrlich wirkt, das ist im ersteren Fall ein die Wirklichkeit Unterschreiten, im letzteren Fall ein sie Überschreiten. Der erstere Fall ist der Fall der Wissenschaft, als mechanisch-materialistische Weltanschauung, innerhalb deren jedes Moment des Weltgeschehens von einem anderen aus bewirkt (bewirkt) wird; das bewirkende Moment ist einem anderen gegenüber selber wieder ein Bewirktes, sodass das ganze Weltgeschehen in dieser Auffassung zu einer bloßen Rückwirklichkeit wird, der gegenüber schließlich nur die eine Frage übrig bleibt: Wo steckt dann der erste notwendige Einsatz dieses Systems von Rückwirklichkeiten, das erste Wirkende, das Primum movens? Dieser Anschauung des Weltgeschehens gegenüber wird die Frage, die Aristoteles mit so überzeugungsvoller Wucht tut: "Ein erster Anfang muss doch sein!" zur Denknotwendigkeit, der man nicht entrinnen kann. Aber man bedenke, dass die gedankliche Notwendigkeit der Schlussfolgerung nicht an sich da ist, sondern erst mit der Auffassung vom Weltgeschehen als einem in jedem Moment Bewirkten, als einem unbegrenzt großen System von Rückwirkungen, ins Leben tritt. Der unrechte Einsatz schafft unrechte Folgerung, und der gedankliche Zwang, die "strenge Logik", wie man sagt, liegt nicht in der Wirklichkeit, sondern in der Sünde gegen sie. Nun ist diese Auffassung der Wissenschaft keine an sich Falsche. Das ganze Weltgeschehen, soweit es den Gesetzen der Mechanik unterliegt, gehorcht dieser Auffassung, wie sich aus der Fähigkeit der Wissenschaft ergibt, voraus zu berechnen. Diese Auffassung ist richtig, aber sie ist nur bedingt richtig und hat auf das Ganze angewandt nur hypothetischen Wert. Demgegenüber ist die Auffassung des Glaubens von der Wirklichkeit als einem selbstherrlich Wirkendem, einer Kraft an sich eine Auffassung, die in ihrer Art die Wirklichkeit ebensoviel überschreitet, wie die Wissenschaft sie unterschreitet. Auch diese Auffassung hat freilich ihre Wurzel in der Wirklichkeit. Wir sehen die Bäume wachsen, hören den Vogel singen usw., aber wir sehen nicht die Kraft, aufgrund deren sich alles vollzieht. Wir sehen nicht das Leben, sondern nur die Lebenserscheinungen und schlussfolgern mit der gleichen überzeugenden Logik: Folglich muss eine Kraft an sich da sein, die als einzig nur Wirkendes, als "Leben" selber hinter diesen Lebenserscheinungen steht. Ich gebe das nächstliegende Beispiel,
die Abstammungslehre. Der Glaube sagt: der Mensch stammt von seinen Eltern ab, nur seinem grob-körperlichen Kleide nach; seinem ewigen Wesen nach stammt er von der selbstherrlichen Kraft, dem rein Wirkenden ab, das die Religionen gemeinhin "Gott" nennen. Und hier ist nun der Punkt, wo der Buddhismus, das heisst das reine Buddhawort, schicklich einsetzt und sein Wesen enthüllt. Der Buddhismus lehrt, dass die Wirklichkeit weder ein Wirkendes ist (Kraft an sich), noch ein Bewirktes (Stoff an sich), sondern Wirken selber, und dass es nur eine einzige Wirklichkeit in der Welt gibt, die ihrem Wesen nach zugänglich ist: nämlich die, die ein jeder in sich selber erlebt und als die er sich selber erlebt. Wobei er sich dann selber als einen Ernährungsvorgang erlebt. Es gibt nur eine Wirklichkeit auf der Welt: sie heisst Ernährung; und Ernährung ist weder ein Wirkendes noch ein Bewirktes, sondern Wirken selber, durch und durch Wirken, wie die Flamme durch und durch Brennen ist. "Alle Wesen sind ihrer Natur nach Ernährung." Auf die Abstammungslehre übertragen heisst das: Der Mensch stammt weder von Gott noch von den Eltern ab, sondern von seinem eigenen Wirken (kamma-yoni), und die Eltern liefern nur den Gegen-Stand, die spezifisch abgestimmte, wahlverwandte Grundlage für dieses Wirken (kamma). Weiter auf dieses Gedanken einzugehen, ist hier nicht der Platz. Hier sei nur noch einmal so viel gesagt: Es gibt nur eine Wirklichkeit in der Welt, die zugänglich ist, das ist die, die ein jeder sich selber erlebt, und sie erlebt sich selber als Ernährung. Wie "Fall" das Stichwort ist, auf das die Welt der Wissenschaft hört, wie "Kraft an sich" das Stichwort ist, auf das die Welt des Glaubens hört, so ist "Ernährung" das Stichwort, auf das die Welt der Wirklichkeit hört. Was aber ist Ernährung ihrem Wesen
nach? Es gibt nur eine Wirklichkeit in der Welt, die als solche zugänglich ist, das ist die einzige Wirklichkeit, die ein jeder als ICH, als Persönlichkeit, als Individualität erlebt, und er erlebt sie als durch und durch Ernährung, als Wirken, durch und durch Wirken. Wie die Flamme nichts ist als Brennen, durch und durch Brennen, und keinen Platz lässt, weder für ein rein Gewirktes (Rückwirkung im Sinne der Wissenschaft), noch für ein rein Wirkendes (Urwirkung im Sinne des Glaubens), so bleibt in Rechter Einsicht beim ICH, bei der Persönlichkeit nichts als Wirklichkeit im Sinne eines reinen, restlosen Wirkens (kamma). Ich muss mich hier mit dieser summarischen
Andeutung begnügen. Wirklichkeit ist weder Wirklichkeit im Sinne eines bloß Gewirkten, wie die Wissenschaft will, noch Wirklichkeit im Sinne eines selbstherrlich frei Wirkenden, wie der Glaube will, sondern Wirklichkeit ist Wirken, durch und durch Wirken, und diese Wirklichkeit erlebt sich selber als solche in dieser einzigartigen Wirklichkeit, die ein jeder "Ich" nennt, und sie erlebt sich hier als ein reiner Ernährungsvorgang, in dem Bewusstsein nicht der Zuschauer des Lebensspieles ist, sondern das Bindeglied jener zwei Welten, die im ganzen übrigen Leben der Menschheit als die Gegensätze von Kraft und Stoff, Geist und Körper, Seele und Leib, kurz: als die Gegensätze von Ernährer (Ernährendem) und Gegenstand der Ernährung (Ernährtem) einander gegenüber stehen. Im Bewusstsein vollzieht sich das große Geheimnis der Vermittlung der Gegensätze, indem in ihm Geist immer wieder zum Körper wird, sich verfleischt, sich niederschlägt als Form, die in Wahrheit nicht Form schlechthin ist, sondern Geist-Form, zur Form verfleischtes Bewusstsein. Was ist das Auge? Geformtes Bewusstsein. Das Ohr? Geformtes Bewusstsein. Die Finger meiner Hand? Geformtes Bewusstsein. Und das Ganze: Ernährung als Erlebnis. "Dieser Leib, ihr Mönche, gehört nicht euch, gehört nicht anderen (das heisst: ist weder ein Seele-begabtes Ich, noch ein bloßes Produkt des Erlebens). Als altes Wirken (puranaṁ kammaṁ) ist das anzusehen, als ein Ergebnis des Wirkens, als ein Ergebnis des Denkens." Und weiter: "Altes Wirken werde ich euch zeigen. Und was ist altes Wirken? Das Auge ist altes Wirken, das Ohr, die Nase, die Zunge, der Leib, das Denken ist altes Wirken." Noch einmal: Ich stamme meiner wesenhaften Wirklichkeit nach nicht von Gott ab, nicht von den Eltern ab, sondern von meinem eigenen Wirken. Und wie das? Weil ich durch und durch nichts bin als Wirken, wie die Flamme durch und durch nichts ist als Brennen.
II. Wahrheit und Lüge als Formen der Ernährung Diese Vorbereitung musste ich geben, um überhaupt etwas über die Eigenart der Lüge im Buddhismus sagen zu können. Denn wie überall, so nimmt auch im Punkt "Lüge" der Buddhismus seine einzigartige Sonderstellung ein, wie es notwendig sein muss bei einer Lehre, die die begrifflich unüberwindbaren Gegensätze von Kraft und Stoff, Geist und Körper, Leib und Seele überwindet im Erlebnis der Ernährung. Ernährung ist das, indem die Kraft selber in die Fesseln der Form schlägt und sinnlich wird als diese Geistform, gemeinhin ICH, Persönlichkeit genannt. Einen Wesenskern, an dem die Wogen der Erscheinung sich brechen könnten; einen festen Wesenskern, der von dem, was da außen, im groben Kleid vor sich geht, unberührt bleiben könnte, eine reservatio mentis im wirklichen Sinne eines rein geistigen Reservates, das vornehm über dem gemeinen Getobe und Gelungere des "Fleisches" steht, das gibt es nicht. Wie bei der lebendigen Flamme, die keinen festen Kern in sich birgt, so geht hier alles "durch und durch". Ernährung ist das, in dem der begriffliche Unterschied zwischen Innen und Außen, zwischen Kern und Schale, zwischen Wesen und Ausdruck nur konventionellen Sinn behält. Gewiss gibt es ein Innen, gibt es ein Außen; gibt es Kern, gibt es Schale, aber nicht als festgelegte Wesenheiten, sondern als Wirkensvorgänge, die in einem beständigen Übergang des einen zum anderen, eben im Verhältnis der Ernährung stehen. Erstes Kennzeichen der Wirklichkeit, und erstes Kennzeichen dafür, dass jemand die Wirklichkeit wirklich erlebt, ist dieses: dass die Gegensätze jeglicher Art fallen, nicht in einer sie überkommenden begrifflichen Einheit, sondern im Erlebnis der Ernährung, in der Innen immer wieder zu Außen, Kern immer wieder zu Schale, Kraft immer wieder zu ihrer sinnlichen Form wird. Im gewöhnlichen geistigen Leben steht Lüge da als Gegensatz der Wahrheit, und als dieser Gegensatz ist sie etwas außerhalb ihrer, der Wahrheit, des Wesenskerns Stehendes, das als solches diesen Wesenskern selber nicht berührt. Lüge ist in dieser Auffassung eine bloße Eigenschaft, die ausgetrieben werden kann und muss, eventuell mit Strafe und Gewalt nach dem Rezept des Mirza-Schaffy: "Wer da lügt, muss Prügel haben." Wie man etwa die Motten aus einem kostbaren Pelz ausklopft, so soll hier die Lüge aus diesem kostbaren Wesenskern ausgeklopft werden. Mit dieser Vorstellung der Gegensätzlichkeit von Lüge und Wahrheit hat es im Buddhismus, d.h. in der wirklichen Einsicht in die Wirklichkeit, in der Einsicht in die wirkliche Wirklichkeit ein Ende. Wo Wahrheit nicht ein an sich Seiendes ist, das sich in einem ewigen Wesenhaften darstellt, sondern ein reiner Ernährungsvorgang, da kann Lüge nicht mehr ihr Gegensatz sein; ebenso wie da, wo Licht und Dunkelheit nicht bloß Begriffe bleiben, sondern zur Wirklichkeit des unterbrechungslosen Ineinander-Übergehens von Tag und Nacht werden, so werden auch in wirklicher Einsicht Wahrheit und Lüge unterbrechungslose Übergänge ein und der selben Wirklichkeit: Ernährung. Es ist ja so, dass das Licht damit, dass es sich selber zeigt, auch die Dunkelheit zeigt, und es ist ja so, dass das Wissen damit, dass es sich selber zeigt, auch das Nichtwissen der anderen zeigt. Wirklichkeit und das Wissen von ihr ist letzten Endes alles was da ist; außer Wirklichkeit und dem Wissen von ihr gibt es nichts, gar nichts! So taucht Wirklichkeit aus einer Phase, in der sie da ist ohne das Wissen von ihr, in die bewusste Phase auf, in der dem Wissen auch ein wirklicher Gegenstand entspricht, und endet in einer Phase, in der dem Wissen von der Wirklichkeit kein Gegenstand mehr entspricht, ein leeres Wissen, eine reine Poesie, d.h. ein gedankliches Machwerk, dessen Prototyp die Lüge ist. Lüge ist ein Wissen ohne entsprechende Wirklichkeit, ein Begriff ohne Gegenstand, als solche ist sie eine Schwester von Täuschung-Irrtum, von jener reinen Ideenlehre, von der Kunst in ihren tausendfältigen Formen und selbst von der Religion, soweit letztere transzendent ist, d.h. die Wirklichkeit überschreitet. Dass eine Transzendenz d.h. eine Überschreitung der Wirklichkeit anders als rein fiktiv möglich sein sollte, das gibt es nicht. Wirklichkeit lässt sich nicht überschreiten. Sie ist freilich nicht in dieser sinnlichen Wirklichkeit hier ein für allemal festgelegt, definiert, umgrenzt als eine geschlossene und gegebene Masse; sie schreitet, aber sie überschreitet nicht sich selber, sondern als Wachstum nimmt sie im sich selber überschreiten sich selber mit, und die Idee eines Jenseits der Wirklichkeit als Transzendenz im religiös-gläubigen Sinne ist für den unvoreingenommenen Denker eine Fiktion, wie die Idee einer physisch abgeschlossenen Wirklichkeitsmasse im Sinne der Wissenschaft eine Hypothese ist. Wirklichkeit ist Wachstum, ist in jeder Form, individuell oder generell Wachstum, und Wachstum bedeutet eben ein Überschreiten seiner selbst, derart, dass man sich selber dabei mitnimmt, und bei dem es keine Transzendenz, kein transzendentes Sein an sich gibt, sondern bei dem im Gegenteil die Unmöglichkeit eines mit sich identischen Etwas, eines Ichselbst (atta = Seele), sich selber erlebt - eine Unmöglichkeit, die der Buddha mit anatta (Nichtselbst, Ametaphysisch) bezeichnet. Keine Religion, soweit sie Glaubensreligion ist, d.h. soweit sie mit der Idee der Transzendenz arbeitet, kann ohne Pia fraus, ohne frommen Betrug, d.h. ohne Lüge fertig werden. Letzten Endes ist die fromme Lüge die erste und unerlässlichste aller Lebenserhalter. Das Proton Pseudos steht an der Wiege aller Wirklichkeit, es selber immer wieder aus der Wirklichkeit als Einheit von Wirklichkeit und dem Wissen von ihr, auftauchend gleich einem leeren Reflex, einem Echo, das noch ein Weilchen besteht, nachdem die Wirklichkeit, der es sein Entstehen verdankt, schon vergangen ist, das aber noch während dieses kurzen Bestehens schon wieder aus einer neuen Wirklichkeit Nachschub erhält, sodass das einzig zusammen hängende im Weltgeschehen der Trug ist, der sich selber betrügt. "Lügen haben kurze Beine"
sagt das Sprichwort, und das trifft alle Wirklichkeit. Dieser Wirklichkeitsgehalt der Lüge, diese unentbehrliche Ergänzung der Wirklichkeit durch die Lüge, stellt sich eben am klarsten in dem dar, was man gemeinhin als Pia fraus, den frommen Betrug nennt. Man nenne mir eine Religion des Transzendentismus, die ohne Pia fraus fertig werden kann! Ich kenne keine! Der Transzendentismus selber ist für den wirklichen Denker die Pia fraus, die sich nie mit Wirklichkeit füllt. Als ich auf einer Reise in Süd-Indien nach der Tempelstadt von Sriri?gam kam, zeigte mir der führende Priester eine Stelle im weiten Tempelgebiet, wo, wie er sagte, alle Jahre einmal Gott Shiva mit seiner Gattin schlafe. Ich sah den Mann lächelnd an und lächelnd erwiderte er: "Was wollen sie machen! Die Menschen verlangen solche Dinge!" Man sagt: Das ist Heidentum! Krasses Heidentum! Ich sage: Das macht wohl nicht den Unterschied. Es ist nicht meine Sache, hier Polemik zu treiben gegenüber anderen Religionen und ihrem Glauben. Aber der Idee des Transzendenz gegenüber wird der am Buddhawort geschulte Denker immer nur an jene Lehrrede erinnert, in der es folgendermaßen heisst: "Gleich als wenn, Vasettha, dieser Aciravati-Fluss voll von Wasser wäre, bis zum Überlaufen, sodass die Krähen daraus trinken könnten, und es käme ein Mann heran, der ans andere Ufer will, im Begriff ist, zum anderen Ufer hinüber zu gehen, das andere Ufer sucht, begierig ist, zum anderen Ufer überzusetzen. Der würde, auf dem diesseitigen Ufer stehend, das jenseitige Ufer anrufen: 'Komm herüber, anderes Ufer! Komm herüber, anderes Ufer!' Was meinst du wohl, Vasettha? Würde wohl dem Anrufen des Mannes zuliebe, seinem Bitten, seinem Flehen, seinem heftigem Wünschen zuliebe des Aciravati-Flusses jenseitiges Ufer zum diesseitigen Ufer herüber kommen?" - "Das nicht, Herr Gotama." Den Betrug verdammen ist eine überflüssige, ja schlechte Arbeit. Viel besser ist es, die Wahrheit zu zeigen. Der Betrug verdammt sich selber; denn es gibt letzten Endes nur eine richterliche Instanz, vor der alles sich entscheidet: die Wirklichkeit. Vor ihr richtet Lug und Trug sich selbst. Was nicht Recht zu bestehen hat, wird sich hier selber einstmals verdammen. Was wahr ist, wird bestehen.
III. Die Reinigung Aus dieser Einsicht in das Wesen der Lüge als ein bloßes künstliches Begriffswerk ohne wirklichen Gegenstand ergibt sich zugleich die Sonderstellung der Lüge unter allen anderen Lastern. Das Verbot der unwahren Rede (musavada veramaṇi) gehört zu den Fünf Silas, den Sittlichkeitsübungen des Buddhismus. Der Entschluss, sich des Tötens lebender Wesen zu enthalten, der Entschluss, sich des Nehmens von Nicht-Gegebenem (Diebstahl) zu enthalten, der Entschluss, sich der Unkeuschheit zu enthalten, der Entschluss, sich der unwahren Rede (Lüge) zu enthalten, der Entschluss, sich der berauschenden Getränke zu enthalten, sind die Fünf Silas, die jeder üben muss, dessen Sinn auf inneren Fortschritt eingestellt ist; dass aber die Lüge unter ihnen eine Sonderstellung einnimmt, das geht aus folgender Erzählung hervor: In einem der Jātaka's d.h. der Wiedergeburtsgeschichten des Buddha, dem Harita-Jātaka, wird berichtet, dass der Bodhisatta, der künftige Buddha, einstmals in einer hohen, reichen Brahmanenfamilie wiedergeboren wurde und wegen seiner goldenen Hautfarbe den Namen Haritacca (Gold-Haut) erhielt. Nach dem Tode seiner Eltern, als er deren großes Vermögen in den Händen hatte, denkt er: 'Das Geld ist da, aber die Schaffer dieser Geldmasse sind nicht mehr da. Was lohnt sich solch toter Reichtum!' Er bringt das Opfer der Armut und geht als Büßer in den Himavant, wo er bald schon die höheren Fähigkeiten erreicht. Auf der Wanderschaft kommt er nach Benares, wo König Brahmadatta ihn bittet, bei ihm zu verweilen, als "Feld des Verdienstes", d.h. als ein ganz würdiger Gegenstand der Almosen. Hier wird er vom König selber bewirtet. Als dieser eines Tages in den Krieg ziehen muss, übergibt er die Pflege des "großen Wesens" seiner Gemahlin mit den Worten: "Vernachlässige nicht das Feld unserer Verdienste!" Diese folgt getreulich der gegebenen Vorschrift, aber eines Tages trifft Harita sie in einem unbewachten Augenblick und verfällt sinnlicher Liebe. Dieses Verhältnis wird ruchbar, kommt vor den König, der aber denkt: 'Ich glaube das nicht. Sie wollen ihn nur mit mir entzweien! Wenn ich zurück kehre, werde ich ihn selber fragen.' Nach seiner Rückkehr fragt er erst sein Weib: "Ist das und das wahr?" - "Ja, Herr!" Aber auch jetzt noch glaubt er nicht. "Ich werde den Heiligen selber fragen!" Er geht zu ihm und spricht: "Gehört hab' ich, Mahabrahmana, Da dachte er: 'Auch wenn ich sagen würde: Ich genieße nicht, so würde dieser König mir das glauben; aber in dieser Welt gibt es keinen Halt, der der Wahrheit gleicht. Wenn man die Wahrheit verlässt, so kann man die Buddhaschaft nicht erreichen, selbst wenn man schon auf dem Buddhathron säße. Mir kommt es zu, die reine Wahrheit zu reden.' - Beim Bodhisatta kommt unter Umständen wohl das Töten von Lebewesen oder das Nehmen von Nicht-Gegebenem oder unkeusches Wirken oder das Trinken von berauschenden Getränken vor, aber vorsätzliche, den Sinn verkehrende Täuschung, kurz Lüge, das gibt es nicht. Worauf beruht diese Sonderstellung der Lüge als einer Un-Wesenheit, d.h. als einem Etwas, das nur leer begrifflichen Bestand hat und Wirklichkeit nur hinter sich hat in dem Sinne, wie etwa ein Reflex oder ein Echo sie hinter sich haben. Zu jedem anderen Laster kann man sich bekennen und sich damit als im Einklang mit sich selber bekennen, einen Akt der Wahrhaftigkeit begehen; zum Laster der Lüge kann man sich nicht bekennen, indem sich zu ihm bekennen heisst: die Wahrheit sagen. Ein Lügner, der sich zum Laster der Lüge bekennt, ist eben kein Lügner mehr, d.h. die Lüge ist Widerspruch in sich, mit dem Akt der Wahrhaftigkeit unverträglich und somit das Laster aller Laster. In dem Teil des buddhistischen Kanons, der sich das Sutta-Pi?aka, der Korb der Lehrreden nennt, gibt es eine Lehrrede, die betitelt ist mit Ambalaṭṭhika-Rāhulovāda-Sutta, d.h. die in Ambalaṭṭhika gehaltene Lehrrede über Rāhula's Ermahnung. Rāhula war des Buddha einziger Sohn, und diese Lehrrede zeigt, dass dieser einzige Sohn bei irgend einer Gelegenheit gelogen haben muss, sodass man beim Lesen dieses Textes auf den Gedanken kommt, dass den Buddha das Schicksal der meisten Großen getroffen habe, Epigonen zu zeugen. Wir stehen hier vielleicht vor der Tragödie des Hauses Gotama: der Sohn ein Lügner, der, trotz dass er Mönch geworden ist, doch nie das Höchste erreicht hat. Tatsächlich wird im Aṅguttara-Nikāya I Rāhula als erster der "gegen die Lüste Ankämpfenden" angeführt, nicht aber unter denen, die das Höchste, die Arahantschaft erreicht haben. Ich gebe zusammengedrängt den Text: So habe ich gehört: Einstmals weilte der Erhabene in Rājagaha, im Veluvana, am Kalandakanivapa. Damals aber weilte der Ehrwürdige Rāhula in Ambalatthika. Da nun begab sich der Erhabene zur Abendzeit, nachdem er sich aus dem Alleinsein erhoben hatte, nach Ambalahika zum Ehrwürdigen Rāhula. Und es sah der Ehrwürdige Rāhula den Erhabenen von weitem heran kommen und bereitete den Sitz und Wasser für die Füße. Und es ließ sich der Erhabene auf dem zubereiteten Sitz nieder und spülte sich die Füße ab. Der Ehrwürdige Rāhula ließ sich, nachdem er den Erhabenen ehrfurchtsvoll begrüßt hatte, seitwärts nieder. Da nun sprach der Erhabene, einen kleinen Wasserrest im Wasserbehälter belassend, zum Ehrwürdigen Rāhula so: "Siehst du wohl, Rāhula, diesen so kleinen Wasserrest im Wasserbehälter belassen?" - "Ja, o Herr." - "Eben so klein, Rāhula, ist das Asketentum derer, bei denen nicht Scheu vor bewusster Unwahrheit besteht." Da nun sprach der Erhabene, den kleinen Wasserrest gänzlich ausgießend zum Ehrwürdigen Rāhula so: "Siehst du wohl, Rāhula, diesen kleinen Wasserrest ausgegossen?" - "Ja, o Herr." - "Eben so ausgegossen ist das Asketentum derer, bei denen nicht Scheu vor bewusster Unwahrheit besteht." Da nun sprach der Erhabene, den Wasserbehälter umkehrend, zum Ehrwürdigen Rāhula so: "Siehst du wohl, Rāhula, diesen umgekehrten Wasserbehälter, leer und hohl?" - "Ja, o Herr." - "Eben so leer und hohl ist das Asketentum derer, bei denen nicht Scheu vor bewusster Unwahrheit besteht." "Gleich als wenn, Rāhula, ein Königselefant mit Hauern wie eine Pflugschar, quellender Masse, von edler Abstammung, an der Schlacht teilnimmt, der verrichtet mit den Vorderfüßen sein Werk, verrichtet mit den Hinterfüßen sein Werk, verrichtet mit dem Vorderkörper sein Werk, er verrichtet es mit dem Hinterkörper. Er verrichtet sein Werk mit dem Kopf, mit den Ohren, mit den Zähnen, mit dem Schwanz, er hält aber den Rüssel zurück. Da weiss der Elefantenlenker: 'Dieser Königselefant verrichtet sein Werk mit den Vorder- und Hinterfüßen, mit Vorder- und Hinterkörper, mit Kopf, Ohren, Zähnen und Schwanz.' Wenn aber, Rāhula, der Königselefant auch mit dem Rüssel sein Werk verrichtet, dann weiss der Elefantenlenker: 'Auch mit dem Rüssel verrichtet er sein Werk. Hingegeben hat der Königselefant sein Leben. Nichts wird ihm nunmehr unausführbar sein.'" "Eben so, Rāhula, bei wem nicht Scheu besteht vor bewusst falscher Rede, bei dem wird nichts unausführbar sein, sage ich. Daher, Rāhula: 'Nicht einmal im Scherz werde ich Unwahrheit reden!', so hast du dich zu üben. Was meinst du wohl, Rāhula, welchem Zweck dient ein Spiegel?" - "Dem Zweck, sich selber zu betrachten, o Herr." - "Eben so auch, Rāhula, betrachtend und wieder betrachtend soll man in Taten Werke verrichten, betrachtend und wieder betrachtend soll man in Worten Werke verrichten. Wenn du, Rāhula, im Begriff stehst, in Taten, in Worten, in Gedanken ein Werk zu verrichten, so hast du dieses Werk so zu betrachten: 'Das Werk, was ich da im Begriff stehe zu verrichten, könnte das zu meiner eigenen Schädigung führen, könnte das zu anderer Schädigung führen, könnte das zu beider Schädigung führen, ein übles Werk, leidensfähig, Leiden reifend?' Wenn du, Rāhula, betrachtend so erkennst: 'Dieses Werk, das ich da im Begriff stehe zu verrichten, das würde zur eigenen Schädigung führen, würde zu anderer Schädigung führen, würde zu beider Schädigung führen, ein übles Werk, leidensfähig, Leiden reifend', so sollst du, Rāhula, ein derartiges Werk nach Kräften nicht verrichten. Wenn du aber, Rāhula, betrachtend so erkennst: 'Dieses Werk, würde nicht zur eigenen Schädigung, nicht zu anderer Schädigung, nicht zu beider Schädigung führen, ein gutes Werk, freudefähig, Freude reifend, so hast du, Rāhula, ein derartiges Werk zu verrichten. Alle die Asketen und Brahmanen, Rāhula, die in vergangenen Zeiten Tatwerk gereinigt haben, Wortwerk gereinigt haben', Gedankenwerk gereinigt haben, die alle haben es so gereinigt, betrachtend und wieder betrachtend. Alle die Asketen und Brahmanen, die in zukünftigen Zeiten Tatwerk reinigen werden, die alle werden es so reinigen, betrachtend und wieder betrachtend. Alle die Asketen und Brahmanen, die gegenwärtig Tatwerk reinigen, Wortwerk reinigen, Gedankenwerk reinigen, alle die reinigen es so, betrachtend und wieder betrachtend. Daher, Rāhula, betrachtend und wieder betrachtend wollen wir Tatwerk reinigen, betrachtend und wieder betrachtend wollen wir Wortwerk reinigen, betrachtend und wieder betrachtend wollen wir Gedankenwerk reinigen, so Rāhula, habt ihr euch wohl zu üben." Wie in allem anderen der Buddhismus eine Sonderstellung innerhalb des geistigen Lebens der Menschheit einnimmt, so auch bezüglich der Lüge. Alle anderen Religionen, soweit sie mit der Idee der Transzendenz arbeiten, d.h. so weit sie Glaubensreligionen sind, arbeiten mit der Notwendigkeit der Pia fraus, der religiösen Lüge. Weisen sie diese Notwendigkeit ab, d.h. machen sie Anspruch, eine rational-wissenschaftliche Religion zu sein, so sind sie überhaupt keine Religion mehr; denn Religion ist nur das, was über diese sinnliche Wirklichkeit hinaus weist und hinaus führt. Der Buddhismus weist über diese sinnliche Wirklichkeit hinaus und führt über sie hinaus und trägt somit die Konstituentien des Religiösen in sich. Als Wirklichkeitslehre kann er, wie zur Philosophie und Morallehre auch zur Religion verarbeitet werden, aber er behält auch als Religion seinen Wirklichkeitscharakter, was sich darin erweist, dass er der Pia fraus, der religiösen Lüge nicht bedarf. Ein Buddhismus, der zu seinem Bestehen der frommen Lüge bedürfte, das wäre kein Buddhismus. Buddhismus ist letzten Endes das, was da lehrt, uns frei von Lüge zu machen in jeder Form, von der gemeinen Lüge, sowohl wie von der idealen Lüge. Dass man hierfür als Preis den Bestand des Lebens selber zahlen muss, das ist nicht seine, des Buddhismus' Schuld, sondern Schuld der Wirklichkeit, die eben ohne Pia fraus nicht bestehen kann: das zeigt aber andererseits auch, wie innig Lüge und Leben verwachsen sind, so eng, dass eins vom anderen nicht zu trennen ist. Wo Leben nichts ist als Ernährung, restlos, durch und durch Ernährung, da ist die Lüge nicht ein Schmutzfleck, der dem äußeren Kleid der Wesen anhaftet und von hier entfernt werden kann, sondern da ist sie, wie jede andere Art von Einbildung auch, eine lebendig Einbildung, eine innere Bildung, die das Spiel der Ernährung im Gang hält, weil sie selber dieses Spiel ist. In solcher Einsicht gibt es nur ein Mittel
gegen die Lüge: das "Betrachten und wieder Betrachten",
das heisst den Kampf gegen leere Begriffe, gegen Einbildungen, mögen
sie sich noch so fromm, noch so ideal, noch so nützlich und produktiv
gebärden.
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