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Was ist Buddhismus und was will er?

 

Erster Teil

Ein Vortrag über Buddhismus oder besser die Art, in welcher Buddhismus hier dargestellt werden soll, verlangt eine gewisse Vorbereitung des Lesers, zu der den Verfasser teils Vorsicht, teils Ehrlichkeit veranlassen. Im allgemeinen ist man gewohnt, mit dem Namen "Buddhismus" das Wunderland Indien und seine Mystik zu verknüpfen. Dem entsprechende Literatur über Buddhismus gibt es genug; es sind meist Werke, bei denen entweder Enthusiasmus oder Antipathie die Sachkenntnis ersetzen. Die Gefahr, die dem Buddhismus und seiner Wiederbelebung droht, kommt aber weniger von seinen Widersachern und Anfeindern als von diesen Schwärmern, die ihn mit dem indischen Pantheismus in einen Topf werfen, wie es seinerzeit schon Schopenhauer getan hat. Es soll hier kein Kampf gegen diese Geister geführt werden. Polemik liegt dem Buddhismus fern. Er zeigt nur. Wenn wir gegen diesen mystizierten Buddhismus reden, so ist es nicht, um den Glauben anderer anzugreifen. Gilt überhaupt für einen das bekannte Wort, dass man jeden nach seiner Fasson solle selig werden lassen, so gilt es für den Buddhisten. Wogegen wir uns wehren, ist der Missbrauch, der mit dem Namen Buddhismus getrieben wird. Denn die Vorstellungen über das, was Buddhismus eigentlich ist, werden durch diese Art Literatur immer irriger. Es scheint heute fast zum guten Ton zu gehören, sich für Buddhismus zu interessieren. Wohin man hört, da heißt es: "Buddhismus, wie interessant!" Aber gekannt wird es von betrübend wenigen. Ja, es scheint bisweilen, als ob diese Unkenntnis über sein. Wesen sogar bis in die Kreise derjenigen geht, die sich seine wissenschaftlichen Vertreter nennen.

Unser Vortrag macht es sich zur Aufgabe zu zeigen, was Buddhismus eigentlich ist, und ich fürchte, dass unsere Ausführungen eine Ernüchterung, ja eine Enttäuschung für manchen bringen werden. Denn es wird sich im Laufe dieser Ausführungen ergeben, dass der Buddhismus weder etwas exotisches, noch etwas mystisches ist, sondern dass er im Gegenteil eine klare, aber nüchterne Lebenslehre ist, deren Größe nicht in ihrem Idealismus, sondern in ihrem Wirklichkeitsgehalt liegt. Womit ihm freilich das höchste Lob gespendet wird, das einer Lehre gespendet werden kann. Denn für den Menschen als denkendes Wesen ist Wahrheit das höchste und Wahrheit kann nur Wert haben, wenn sie im Einklang mit der Wirklichkeit steht, wenn sie Form der Wirklichkeit selber ist.

Aber unser Vortrag wird nicht nur ernüchternd, er wird auf manchen auch abstoßend wirken. Denn im Wesen des Buddhismus als einer Wirklichkeitslehre liegt es, dass er, nicht in polemischer Absicht, sondern einfach dadurch, dass er sich selber zeigt, an dem rüttelt, was der Kulturmensch gewohnt ist seine heiligsten Güter und seine Ewigkeitswerte zu nennen. Sicherlich muss ein jeder, der es mit der Menschheit und folglich auch mit sich selber gut meint, sich fragen, ob er der Menschheit und sich selber einen Dienst leistet, wenn er an diesem heiligen Bestande rüttelt? Dass er es in keinem Falle in frivoler Weise als Spötter und Verächter tun wird, ist ohne weiteres gewiss. Tut er es, so wird er es nur als Lehrer und Helfer tun. Aber es fragt sich, ob er es selbst als solcher tun darf? Es fragt sich, ob Idealismen, mögen sie das Diesseits oder das Jenseits, Welt oder Gott betreffen, nicht unter Umständen wohltätiger sind als eine reine, aber gerade infolge ihrer Reinheit geschmacklose Wirklichkeitslehre? Denn schließlich kommt ja alles nur darauf an, dass wir gute Menschen sind. Ob wir das durch Idealismus oder Wirklichkeitssinn, durch Glauben oder Verstehen erreichen, steht sicherlich erst in zweiter Linie. So kommt es sicherlich erst in zweiter Linie, ob die Welt dermaleinst christlich oder buddhistisch sein wird. Die Hauptsache ist, dass in ihr Wahrhaftigkeit, Güte und Duldsamkeit herrschen. Aber der biblische Spruch "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen" gilt für gedankliche wie tätliche Werte. Die Früchte, welche der Menschheit aus ihrem eigenen Entwicklungsgange gereift sind, sind üble. Wahrhaftigkeit, Güte und Duldung sind nirgends gereift. Durch keine noch so kunstvoll ausgesponnenen Betrachtungen über die Größe unserer Zeit wird der denkende Kopf sich darüber hinweg täuschen lassen, dass wir in eine Zeit der Verlogenheit, der Unmenschlichkeit und der Unduldsamkeit geraten sind. Folglich können die Keime, aus denen dieses alles sich gereift hat, keine guten sein. Es muss eben etwas faul sein im Staate Menschheit.

Man wirft natürlich ein: "Das sind bloße Taten, Äußerlichkeiten. Weltgeschichtliche Entwicklung hat es mit sich gebracht, dass sie vorübergehend den edlen Wesenskern der Menschheit überwuchert haben. Wie die Sonne ihre Verdunklungen hat, so hat auch die Menschheit ihre Zeiten der Verdunklung. Gerade jetzt stehen wir in einer solchen Periode der Menschheitsfinsternis; aber nur ein wenig Geduld und die Sonne wahrer Menschheit wird wieder um so strahlender erscheinen."

Jeder Denkende wünscht von Herzen, dass er sich einem solchen Argument anschließen könnte. Aber ich fürchte, er kann es nicht. Der wahre Wert eines jeden Dinges zeigt sich dann, wenn es gebraucht wird. Wir alle haben in unseren guten Stuben viele Sachen, die gar schön anzusehen sind, die aber versagen, sobald sie gebraucht werden sollen. Für die konventionellen Menschheitswerte ist es ein gar leichtes, sich in ihrer Schönheit zu zeigen, wenn alles hienieden froh und fröhlich ist und die Menschheit den behaglich geordneten Charakter der guten Stube des gemeinen Mannes hat. Ihr Wert und ihr Gehalt kann sich erst in Zeiten der Not beweisen, wenn alle Augen sich angstvoll auf sie richten und Hilfe von ihnen erwarten. Fragt man sich: Wie haben in diesen Zeiten der Weltnot die Menschheitswerte sich bewährt? so kann der Denkende nur antworten: sie haben versagt. Die Kulturwelt hätte sonst nicht in einen derartigen Zustand von Verwilderung geraten können, wie sie ihn heute zeigt. Kultur und Religion sind heute lediglich Mittel für gewisse Zwecke geworden und haben nur Wert, soweit sie den Machtgelüsten der Einzelnen dienen. Dass sie je ihren wahren Zweck erfüllt hätten: Machtgelüste zu regeln und zu dämpfen, das haben wir in diesen Jahren der Prüfung nie erlebt. Hier nun zu behaupten, dass die Taten den edlen Kern der Menschheit unberührt lassen, das geht nicht an. Das Tun des Menschen ist sinnlicher Ausdruck seines Denkens. Denken ist die Wurzel unseres Handelns. Wo sich solche Folgen in Werken gebären, da kann der Keim kein guter sein. Womit nun freilich nicht gesagt ist, dass das Alte Testament recht hat, wenn es behauptet, dass das Dichten und Trachten des Menschen böse sei von Jugend auf. Beim Denken haben "gut" und "böse" keinen Sinn mehr; diese Begriffe lassen sich nur auf Taten anwenden. Beim Denken geht es nur um "richtig" oder "falsch". "Richtig" wird hier "recht"; "falsch" wird hier "unecht". Das was wir heute erleben, beweist nicht, dass die Menschheit schlecht ist, sondern dass sie falsch denkt.

Wer falsch denkt, bedarf nicht der Strafe, sondern der Belehrung. Falsches Denken kann nur die Schuld einer falschen Lebenslehre sein. Die Lebenslehre der modernen Menschheit ist auf Idealismen aufgebaut. Diese Idealismen haben versagt. Das Schwert der Religion, dieses höchsten Idealismus, das den Kampf gegen Selbstsucht, Unmenschlichkeit und Lüge führen sollte, zerbrach beim ersten Streich. Gewiss! Man wird später, wenn wieder Frieden herrscht, versuchen, die zerbrochenen Stücke zusammen zu leimen und das Ganze wieder in sein früheres Amt eines Hüters der Wahrheit und Menschlichkeit einzusetzen; aber ein sehr großer Teil, zum mindesten alle Denkenden werden den Glauben an den Wert dieser Waffe verloren haben. Man wird fühlen, ja man fühlt es heute schon, dass sie bei der nächsten Probe ebenso versagen wird, wie dieses Mal. Aus dieser Einsicht leitet eine Lehre, die den Anspruch erhebt, wirkliche Werte zu bringen, ihre Berechtigung ab, an den alten ideellen Werten der Menschheit zu rütteln, selbst wenn sie weiß, dass sie dadurch für den alltäglichen Kopf etwas fremdes, ja abstoßendes und bedrohendes bekommt.

Auf diesem Gebiet sind Änderungen freilich immer bedrohlich, weil unsere höchsten Menschheitswerte so beschaffen sind, dass bei ihnen jeder Versuch der Kritik den Charakter der Tempelschändung annimmt - eine sehr bedenkliche Eigenschaft, die beim Denkenden immer den Eindruck erweckt, als ob diese Werte mehr um ihrer selbst willen als um der Menschheit willen da wären. Der denkende Mensch kann nicht auf die Forderung verzichten, dass auch das Heiligste sich als solches begründen lassen muss und er wird keinem Menschheitswert, mag er das Diesseits, mag er das Jenseits betreffen, a priori das Recht zugestehen, seine Heiligkeit aus seiner Unbeweisbarkeit abzuleiten. Die Wirklichkeit ist der höchste Gerichtshof der Menschheit, vor dem alle Fragen, auch die letzten und höchsten, entschieden werden müssen, und Denken ist das ausübende Organ, der Richter an diesem höchsten Gerichtshof. Eine Menschheit, die für dieses Verhältnis zwischen Denken und Wirklichkeit kein Gefühl und kein Verständnis hat, der fehlt es an Wirklichkeitssinn, und man muss versuchen, diesen ihren Mangel durch Belehrung zu beheben.

Das wird nicht dadurch geschehen können, dass man gegen die alten konventionellen Menschheitswerte mit Gewalt oder Spott oder irgend einer anderen Art des Fanatismus ankämpft; denn was unbeweisbar ist, das ist auch unbekämpfbar. Es wird vielmehr dadurch geschehen, dass man zeigt, wie sich alle diese konventionellen Werte durch neue, aus der Wirklichkeit selber heraus geschaffene, ersetzen lassen und wie die Menschheit erst dadurch zu ihrer vollen Würde und zum Bewusstsein dieser ihrer Würde kommt. Denn von voller Menschenwürde kann erst da die Rede sein, wo die Menschheit sich selber als selbständig begriffen hat und nicht mehr transzendenter Stützen bedarf, um sich im gedanklichen und moralischen Gleichgewicht zu halten. Die Menschheit muss lernen, dass sie sich selber verantwortlich ist, wenn sie je zu wahrer Menschlichkeit kommen will. Das kann sie nur lernen, wenn sie sich entschließt, alle ihre Werte einer gründlichen Prüfung zu unterziehen.

Auf die Notwendigkeit dieser Prüfung ist sie durch die Wissenschaft schon vorbereitet worden. Man kann nicht sagen, dass die Wissenschaft es gewesen ist, die den Menschen das Zweifeln gelehrt hat. Jeder gesund denkende Mensch ist Zweifler von Natur. Die Wissenschaft hat den Menschen nur die Berechtigung zum Zweifeln gelehrt. Aber sie hat ihm für die benagten Glaubenswerte nichts neues gegeben. Trotz der scheinbaren Fülle ihrer Gaben hat sie den Menschen ärmer gemacht. Hier nun setzt die eigentliche Funktion des Buddhismus ein. Was durch die Wissenschaft vorbereitet wird: die Kritik aller Werte, wird durch ihn zur Tat. Er erfüllt diese seine Aufgabe nicht dadurch, dass er wie die Wissenschaft an den Glaubenswerten weiter nagt, sondern dadurch, dass er von vornherein mit einem Standpunkt einsetzt, der außerhalb alles Glaubens liegt. Die Größe des Buddhismus liegt darin - nicht dass er den Menschen des Glaubens beraubt und ihn zum Atheisten macht, sondern darin, dass er ihn von vornherein der Notwendigkeit des Glaubens überhebt.

Es wurde vorhin gesagt, dass teils Vorsicht, teils Ehrlichkeit den Verfasser dieses Vortrages veranlassen, im voraus anzudeuten, was er bringen wird. So sei denn hier gesagt: Der Buddhismus ist eine Lehre, die unter Ausstoßung sämtlicher auf dem Glauben aufgebauter, transzendenter Werte, unter Verzicht auf den Gottbegriff, unter Abweisung jeder Seelenlehre, den metaphysischen Drang des Menschen allein aus der Wirklichkeit heraus stillt, ohne doch dabei in den Materialismus der Wissenschaft zu verfallen. Der Buddhismus beraubt die Welt ihres Gehaltes an Obersinnlichem, soweit unter übersinnlichem Transzendentismus und Glaubensgegenstände verstanden werden. Aber anstatt dabei das moralische Gefüge des Ganzen zu lockern, wie die moderne Wissenschaft es tut und die Menschen in moralischen Indifferentismus zu stürzen, schließt sich ihm die Welt zu einem Gefüge von unerbittlicher Moral. Und das sei hier als Warnung vorher gesagt: Wer sich überhaupt mit Buddhismus befasst, der dringe bis zu jener Tiefe vor, in welcher sich ihm aus dem Geröll der zertrümmerten Menschheitswerte heraus der Quell einer neuen Menschheitskultur erschließt. Das Halbe ist hier nicht die Hälfte. Buddhismus halb verstehen, heißt ihn missverstehen. Der Buddhismus ist abstoßend in der Erstwirkung, weil er Dinge, die wir lieb haben, Vorstellungen, ohne die wir glauben nicht auskommen zu können, Hoffnungen, an denen wir hängen, scheinbar rücksichtslos über Bord wirft. Er leuchtet in die geheimsten Winkel unseres Wesens. Er zeigt im Edelsten, in dem was uns als göttlich imponiert, jene Selbstsucht, der alle Mittel recht sind, um sich selber zu erhalten. Aber man wende sich nicht empört ab. Je tiefer man dringt, um so mehr glätten sich die Wogen des aufgepeitschten Denkens. Was rohe Revolution erschien wird zur edelsten Evolution und der in seiner Grundfeste, in seinem Egoismus erschütterte Geist zittert einer neuen beglückenden Einsicht zu - der Einsicht: "Ich bin in die Wirklichkeit eingeschnellt. Eine Notwendigkeit, zur Stillung geistiger Bedürfnisse aus dieser Wirklichkeit heraus zu treten, gibt es für mich nicht mehr." Auf diese Einsicht stellt er sich fest und fester ein, wie die gestörte Magnetnadel auf ihren Pol.

Aber der Buddhismus ist nicht nur ernüchternd und in der Erstwirkung abstoßend - er ist außerdem auch anspruchsvoll. Denn, um auch das hier vorweg zu sagen, Buddhismus seinem eigentlichen Wesen nach ist nichts, als ein gedankliches Erlebnis, das durch Inschau, durch Intuition am eigenen Ich gewonnen wird und als solches nirgends anders in der Welt gewonnen werden kann. Es ist freilich sehr viel leichter und lohnender, den Buddhismus in seinen mehr oder weniger fremdartigen Äußerlichkeiten darzustellen, seine Lehrsätze und Vorschriften wiederzugeben; ihn vergleichend dem Christentum gegenüber zu stellen; aber mit allem diesem ist in Wirklichkeit wenig gewonnen. Damit bleibt man in der Symptomatik der Lehre stecken und kommt gar nicht an den Kern. Der Kern des Buddhismus läuft auf ein Umdenken hinaus, das notwendig am eigenen Ich einsetzt. Denken ist das erste, was buddhistisch werden muss, will man von wahrem Buddhismus reden. Die Lehrsätze des Buddhismus sind lediglich Ergebnis dieses Umdenkens. Sie bleiben Dogmen wie die Lehrsätze der Glaubensreligionen auch, wenn man nicht mit dem Buddha umgedacht hat und damit die erkenntnistheoretische und moralische Notwendigkeit alles dessen begreift, was er lehrt.

Jeder wirkliche Zwang für den Menschen geht letzten Grundes nicht von den Dingen, sondern vom Denken aus und ist somit kein äußerer Zwang, sondern ein Selbstzwang. In Wahrheit gezwungen werden kann der Mensch nur, wenn er sich selber zwingt und das kann er nur, wenn er die Notwendigkeit dessen, wozu er sich zwingen soll, begriffen hat. Woraus sich dann wieder ergibt, dass jeder wirkliche Fortschritt in der Welt nicht durch Gesetze, Verordnungen oder gar Gewaltmittel, sondern nur durch Belehrung zustande gebracht werden kann. Von jeher hat die Welt nicht der so genannten großen Männer bedurft, sondern der Lehrer, und von jeher ist für den Denkenden die größte Tat nicht Sieg und Eroberung, nicht Entdeckung und Erfindung gewesen, nicht Meisterung der Welt, sondern Meisterung seiner selbst. Und der einzige wirkliche Weg hierzu ist der: sich selber zu begreifen. In jedem anderen Fall ist diese Meisterung seiner selbst bloße Bändigung und Unnatur.

Ein solches Begreifen seiner selbst verlangt, dass der Schwerpunkt aus der Welt in das Ich verlegt wird. Als solch ein Verinnerlicher, der des Menschen Gedanken und Triebe von der Welt, diesseitiger wie jenseitiger, abzieht und in neuer Saugkraft auf sich selber einstellt, macht der Buddhismus Anspruch darauf, ein Kulturfaktor für jede Zeit zu sein. Denn Kultur beruht letzten Grundes immer auf Verinnerlichung; tut sie das nicht, so ist sie nicht Kultur, sondern bloße Zivilisation.

Es ist von großer Wichtigkeit, sich über den Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation klar zu werden; denn in beiden Begriffen spiegeln sich zwei Lebensrichtungen, ja sogar zwei verschiedene menschliche Anlagen wieder, die von jeher im Kampf miteinander gelegen haben, deren Verhältnis aber in unserer Zeit ein besonders gespanntes geworden ist.

Beide, Kultur und Zivilisation, kann man unter dem Namen Bildung zusammenfassen. Aber es gibt eben zwei wesentlich verschiedene Arten von Bildung, wie es zwei wesentlich verschiedene Arten von Bewegung gibt. Einerseits die mit Ortsveränderung verbundene, grobe Bewegung und andererseits die ohne Ortsveränderung, die Schwingungsbewegung, wie z.B. Licht und Wärme sie darstellen. Der groben, auf Ortsveränderung beruhenden Bewegung entspricht die Form der Bildung, die wir Zivilisation nennen. Sie sucht sich an der Welt zu stillen und durcheilt, durchwühlt, durchforscht zu diesem Zweck die Welt extensiv und intensiv. In Summa läuft sie auf einen Kampf gegen Zeit, Raum und Reibung hinaus. Wenn wir heute mit dem überlegenen Lächeln des zwanzigsten Jahrhunderts auf unsere Bildung pochen, so ist diese zivilisatorische Bildung gemeint, die letzten Grundes nur auf gesteigerter und vervollkommneter Technik beruht und daher einen beständigen Fortschritt vortäuscht, bei dem wir aber im Grunde genommen nicht uns selber bilden, sondern nur die Natur verbilden.

Wahre Bildung verlangt notwendig, dass der Bildungsprozess am eigenen Ich vor sich geht; das wird aber durch unsere Zivilisation nicht bewirkt, sondern im Gegenteil erschwert, ja unter Umständen unmöglich gemacht. Bildung als Zivilisation ist ein genereller Wert, welcher der ganzen Menschheit gemeinsam ist, von welchem die ganze Menschheit zehrt, gleich Leuten, die aus einer gemeinsamen Schüssel essen. Bildung als Kultur dagegen ist ein individueller Wert, der auf Verinnerlichung beruht. Zivilisation geht nach außen auf die Welt; Kultur nach innen, auf das eigene Ich. Zivilisation geht auf das, was wir haben, an Kenntnissen, an Fähigkeiten, an materiellem Besitz. Kultur geht auf das, was wir unserem Wesen nach sind. Bei der Zivilisation ist es möglich, sich Errungenschaften anderer zu nutze zu machen, wie man sich an einem Feuer, das andere angezündet haben, mit wärmen kann. Bei der Kultur geht es wie beim Essen. Essen kann jeder nur für sich selber. Kulturelle Werte können nicht aus der Gesamtheit bestritten werden, sondern jeder muss sie sich selber erwerben durch Verinnerlichung und Arbeit an sich selber.

Der Mensch im Naturzustand ist zivilisatorisch veranlagt, mit seinem Bildungstrieb auf die Welt eingestellt. Er bedarf dessen zu seiner eigenen Erhaltung. Niemand wird sich veranlasst fühlen, über sich selber nachzudenken, ehe er darüber nachgedacht hat, wie er sich seine Speisen kochen, sein Brot backen, seinen Acker bestellen, sich vor Kälte und wilden Tieren schützen kann. Sind aber einmal diese natürlichen Bedürfnisse, welche die Selbsterhaltung verlangt, gestillt, so wird sich ein großer Unterschied zwischen den Menschen zeigen. Die einen werden in dieser zivilisatorischen Richtung weiter streben und ihr Bildungsbedürfnis an der Welt und ihren Unendlichkeiten in Zeit und Raum zu stillen suchen; wobei sie dann sicher sein können, für ihr ganzes Leben so viel Beschäftigung zu finden, dass sie nie in die Verlegenheit kommen werden, sich mit sich selber zu beschäftigen. Die Anderen werden, sobald dieser Notdurft genüge getan ist, dahin zurück kehren, wohin natürlicherweise der Schwerpunkt eines jeden gehört: zu sich selber. Sie werden die reflexive Richtung einschlagen. Reflektieren heißt zurück beugen. Wenn ein Lichtstrahl reflektiert, d.h. von dem Gegenstand, auf den er aufgefallen ist, umbiegt und in der Richtung auf seinen Ausgangspunkt zurück kehrt, so biegen diese zu wahrer Bildung veranlagten Naturen von der Welt um, zum eigenen Ich zurück. Wahre Bildung, Kultur, fällt mit dieser reflexiven, auf sich selber eingestellten Richtung zusammen. Ohne Reflexion, ohne Rückkehr zu sich selber, ohne Einkehr in sich selber, ist keine Kultur möglich und wäre die äußere Bildung noch so hoch. Schließlich ist Bildung in jeder Form das Streben nach Vervollkommnung, nach Vollendung. Diese Vollendung sucht der zivilisatorisch Veranlagte in der Welt, wobei er sich immer weiter von sich selber entfernen wird. Der kulturell Veranlagte sucht diese Vollendung bei sich selber. Damit haben wir in ihren Hauptzügen die beiden Bildungsarten gekennzeichnet, die man streng auseinander halten muss, wenn man zu einer richtigen Vorstellung über die Bildung unserer Zeit kommen will.

Die Zeit, in der wir leben, ist in vielleicht nie da gewesenem Maß einseitig zivilisatorisch geartet. Ihr Schwerpunkt liegt völlig im Bereich des Habens. Der moderne Mensch hat viel - viel mehr als er braucht an Wissen, an Können, an Mitteln, aber er ist - ach so wenig. Damit ist der modernen Bildung ihr Urteil gesprochen. "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Die höchste Frucht aller wahren Bildung ist Toleranz, Duldsamkeit. Sie kann nur da bestehen, wo der Betreffende gelernt hat, sich selber an die Stelle des Anderen zu versetzen. Das ist nur da möglich, wo man sich selber gegenüber das nötige Maß von gedanklicher Beweglichkeit gewonnen hat. Ein jeder ist mit seinem eigenen Selbst verwachsen. Diese Verwachsung muss gelöst werden, soll es je zu wahrer Bildung kommen. Das verlangt viel Nachdenken und geduldiges Arbeiten an sich selber. Der Ungebildete wird stets sich selber mit anderem Maß messen als den Nächsten, weil er sich selber gegenüber nicht beweglich geworden ist. Man muss viel nachgedacht haben, um dem fremden Ich das gleiche Recht am Leben zuzugestehen wie dem eigenen. Intoleranz ist geistige Beschränktheit, Verwachsensein mit sich selber und als solche Mangel an Bildung, mag es sich auch im übrigen um die gelehrtesten, klügsten und gewandtesten Köpfe handeln. Und es ist so schwer, diese Intoleranz als Bildungsmangel zu erkennen, weil der Mensch die große Kunst besitzt, sie in den Mantel der Ideale zu hüllen, ja diese Ideale zum bequemsten Mittel zu machen, um ungestraft vor dem eigenen Gewissen Intoleranz üben zu können.

Die Zeit, in der wir leben, gibt so aufdringliche Beweise für die Richtigkeit dieser Behauptung, dass es kaum lohnt, sie näher zu begründen. Der Mensch könnte ein solches Maß von Intoleranz und Unmenschlichkeit nie entwickeln, wenn er nicht vorgeben könnte, es im Dienste seiner Ideale zu tun. Das gibt unserer Zeit diesen Charakter der sentimentalen Bestialität, die bei allem, was sie verübt, mit einem Auge zum Himmel schielt und die dadurch widerwärtiger wird als jede andere, offene Grausamkeit. Der Weltkrieg zeigt, dass die Menschheit bei ständig steigender Zivilisation in ihrer Kultur beständig gesunken ist, und wenn wir aus dieser Zeit überhaupt irgend einen Trost schöpfen können, so ist es nur der, dass wir jetzt endlich vielleicht bei jenem Hochstand der Zivilisation und bei jenem Tiefstand der Kultur angelangt sind, über die es beiderseits nicht mehr hinaus geht.

Zeiten hoher Zivilisation sind stets auch Zeiten niedriger Kultur gewesen. Der Verfall hoher Kulturepochen ist stets unter dem Bild hoher Zivilisation verlaufen. Auch die schwindelnde Höhe unserer Zivilisation ist für den Denkenden nichts als der Ausdruck einer niedergehenden Kultur. Den Beweis hierfür sehen wir in der alles beherrschenden Neigung, Kultur in Schlagworten und Bildung in gedanklicher Technik zu suchen. Es hat sich hier im Laufe der Zeiten ein fehlerhafter Zirkel entwickelt, der unsere Bildung zu verderben droht: Je mehr die Zivilisation und ihre Fortschritte den Menschen sich selber entfremden, um so mehr verliert er Lust und Geschmack am Verkehr mit sich selber und je weniger er mit sich selber verkehrt, um so mehr steigt der Geschmack an dieser Scheinbildung, in deren Mechanismen er schließlich selber zur Maschine wird. Anders ausgedrückt: Je mehr an Haben, um so weniger an Sein, und je weniger an Sein, um so größer die Sucht nach Haben.

Die Weltgeschichte zeigt, dass gerade die westlichen Völker ihrer ganzen Natur nach stark zivilisatorisch veranlagt sind, während der Osten, vor allem Indien, ebenso stark kulturell veranlagt sind. Zivilisation besticht, weil sie mit einem beständigen Fortschreiten verbunden ist, das sich selber sichtbar macht. Der Westen erhält dadurch den Charakter der Rührigkeit, der Tatkraft, der Aktivität, die dem Osten und seiner beschaulichen Ruhe abgeht. Durch diese zivilisatorische Anlage, die rastlos von einer Errungenschaft zur anderen treibt, haben sich die westlichen Völker zu Herren der Erde gemacht und sind jetzt im Begriff, die Kulturreste, welche der Osten noch birgt, hinweg zu spülen. Wenn nicht alles täuscht, so gehen wir einer Weltzivilisation entgegen, die für die Menschheitskultur die traurigsten Aussichten eröffnet. Keine noch so hohe Blüte des geistigen Lebens wird an dieser Tatsache etwas ändern. Auch die Geisteswissenschaften unserer Zeit gehören zum großen Gebiet des Habens und sind als solche nur verfeinerte Formen der Zivilisation. Es ist ein großer Irrtum, nach ihnen die Höhe einer Kultur zu bemessen. Im allgemeinen wird die Zeit die wenigste Kultur haben, die am meisten von ihr spricht. Wirkliche Kultur setzt erst dann ein, wenn der geistige Schwerpunkt aus der Welt in das Ich, aus dem Haben in das Sein verlegt wird; wenn Denken zum Selbstdenken wird und den Denker zwingt, sich ihm zu fügen.

In dieses Gebiet der Kultur treten wir mit dem Buddhismus ein. Wie schon vorhin gesagt, ist der Buddhismus letzten Grundes nichts als ein gedankliches Selbsterlebnis und als solches ein Ergebnis der Verinnerlichung. Damit setzt er sich in Gegensatz zur modernen Zeit und ihrer zivilisatorischen Richtung. Das schwerste beim Buddhismus ist der Einsatzpunkt. Mit der Lust und dem Geschmack an der Verinnerlichung hat die Zivilisation dem modernen Menschen auch die Zeit hierfür genommen, indem sie ihn durch die ewig neue Fülle ihrer Gaben in ununterbrochener Hast und Unruhe erhält. Unsere immer eilige Zeit verlangt fertige Programme. Sie verlangt, dass das, was man ihr bietet, seine Marke trägt, wie die Ware beim Kaufmann, damit man sich das Passende ohne Mühe und Zeitverlust aussuchen kann. Wer mit einem fertigen Programm auftritt, mag es ein religiöses, soziales oder politisches sein, der wird stets sehr viel leichtere Arbeit haben als einer, der nicht nur ohne Programme kommt, sondern der sogar die Forderung erhebt, sich von jedem Programm frei zu machen und sich nur an sich selber zu halten. Ob man mit Sancho Pansa sagt: "Wurst ist mein König", ob man mit dem jungen Parsival auf die Heilige Gral-Suche geht - in beiden Fällen handelt es sich um ein Programm, das man verwirklichen will. In beiden Fällen sucht man die Erfüllung des Lebens außerhalb seiner selbst, einmal als derber Materialist, einmal als durchgeistigter Idealist; aber Programm beiderseits und damit etwas Fertiges, an das der Geist sich halten kann und das ihm die Arbeit des Lebens erleichtert. Denn das ist ja der wahre Sinn, der wahre Wert aller Lebensprogramme, dass sie trotz der scheinbaren Belastung, die sie dem Leben aufbürden, doch dieses Leben leben helfen, wie der Stab, trotz der scheinbaren Belastung, die er dem Wanderer aufbürdet, diesem doch wandern hilft. Und das ist letzte und höchste Anforderung, die man an den Menschen stellen kann, dass er aufhört, die Erfüllung seines Lebens außerhalb seiner selbst zu suchen und sich an sich selber hält.

Der einseitig zivilisatorische Entwicklungsgang der Menschheit hat uns alle unselbständig gemacht, praktisch wie gedanklich. Unselbständigkeit ist die Losung unserer Zeit. Wir alle halten uns, indem sich einer in den andern schiebt und das Ganze hält sich dadurch, dass es seine Anker in die Unergründlichkeiten des Transzendenten wirft. Unter uns Zivilisierten gibt es keinen, der sich selbständig, unmittelbar aus der Hand der Natur ernähren könnte. Er würde verhungern. Ebenso gibt es unter uns keinen, der sich geistig selbständig ernähren könnte. Ein jeder von uns verarbeitet in Form der Begriffe geistige Nahrung, die von anderen zubereitet ist. Wie unser äußeres Leben auf Schienen läuft, so läuft auch unser geistiges Leben auf den Schienen konventioneller Begriffe. Wir alle wandern mit vorgeschriebener Marschroute und festgelegtem Endziel. Selbständigkeit ist ein Wagnis geworden, viel größer als das Wagnis in die Tiefe des Meeres zu tauchen oder in die Luft hochzusteigen. Dieses Wagnis aber fordert der Buddhismus, und weil er es fordert, deswegen ist er anspruchsvoll. Und weil es nicht jedermanns Sache ist, ihm diesen Anspruch zuzugestehen, ja weil mancher über diese Forderung, das Höchste hienieden nicht aus der Hand göttlicher Offenbarung oder allgemeiner Menschheitsidealismen, sondern vom eigenen Denken zu empfangen, erschrecken, ja sich empören wird, darum hat der Verfasser es für nötig gehalten, den Hörern vorher diese Winke zu geben, aus denen sie ersehen können: einerseits, was ihnen geboten werden wird und andererseits, was man von ihnen verlangt. Es gibt Geister, die nichts mehr fürchten als dass die Hochwasser einer rücksichtslosen Wirklichkeit in das eingezäunte Gärtchen ihrer Weltanschauung einbrechen und seine wohlgepflegten Beete und Wege zerstören könnten. Diese Geister seien hiermit gewarnt! Die folgende Darlegung buddhistischer Wirklichkeitslehre wird ihnen nur Unbehagen machen, ohne ihnen im übrigen Nutzen zu bringen. Wie der Blinde, der da behauptet, seine Augen seien ganz in Ordnung, weil er nichts Krankes an ihnen sehen könne, so werden diese Geister behaupten, die Welt besitze in der Tat jene biblische Vortrefflichkeit, weil sie selber nichts von ihr begreifen. Für sie ist dieser Vortrag nicht! Er wendet sich an die Suchenden, deren Inneres gelockert, zum Umdenken bereit ist.

Ehe wir auf unseren eigentlichen Vortrag übergehen, wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Neu-Buddhistische Verlag, in dessen Auftrag dieser Vortrag hier gehalten wird, eine eigene Vierteljahresschrift unter dem Titel "Neu-Buddhistische Zeitschrift" erscheinen lässt. Dieselbe wird, entgegen den meisten anderen Zeitschriften, den von ihr vertretenen Standpunkt nicht als bekannt voraus setzen, sondern wird ihre Aufgabe darin erblicken, in ihn einzuführen und über ihn zu belehren, wenn nötig unter Anwendung von Wiederholungen. Der Preis dieser Zeitschrift ist infolge der zur Zeit auf dem Bücher- und Papiermarkt herrschenden Verhältnisse ein relativ hoher. Um aber weniger Bemittelte dadurch nicht an der Anschaffung zu behindern, ist der Verlag bereit, allen denen, die sich deswegen an ihn wenden, die Zeitschrift zu einem ihren Mitteln entsprechenden Preis abzugeben.

Mit diesen Vorbemerkungen glauben wir die nötige Plattform gewonnen zu haben, von der aus wir auf unser Thema selber zutreten können. Wir sind bei unserer Titelfrage angelangt: Was ist Buddhismus?

Darauf lautet unsere vorläufige Antwort: Buddhismus ist die Lehre des Buddha. Buddha ist kein Eigenname, sondern bedeutet der Erwachte, und die historische Persönlichkeit, die wir mit diesem Namen bezeichnen, ist der Buddha Gotama (Sanskrit: Gautama), der aller Wahrscheinlichkeit nach um die Wende des 6. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung lebte und damit ein ungefährer Zeitgenosse im Westen der ältesten griechischen Philosophie unter Thales und Heraklit, im Osten der klassischen chinesischen Philosophie unter Laotse und Konfutse war. In welchem zeitlichen und kausalen Verhältnis er selber zu den Grundströmungen der indischen Philosophie, dem Sankhya und dem Vedanta gestanden hat, darüber gehen die Ansichten auseinander, was beiläufig für den Buddhismus selber und seine Wertschätzung völlig bedeutungslos ist. Denn wie jeder, der sich ernsthaft mit ihm beschäftigt, bald merken wird, stellt er einen in sich geschlossenen, innerlich selbständigen gedanklichen Organismus dar, der von seinen Vor- und Mitläufern, mögen sie gewesen sein welche sie wollen, wohl Schlagworte, aber keine Nahrung annahm. Jede nähere Beschäftigung mit dem Buddhismus zeigt, dass bei ihm die religiösen und philosophischen Schlagworte jenen einzigartigen, ursprünglichen, an die Wurzel gehenden Sinn haben, wie er nur dem Selbsterleben eigen sein kann. Der Zusammenfall im Wortlaut mit anderen Lehren ist dem gegenüber bedeutungslos.

Der Buddha Gotama (der Akzent des Namens liegt auf der ersten Silbe) stammte aus dem fürstlichen Haus der Sakyer, weshalb er in den nördlichen Texten oft Sakyamuni, der Büßer der Sakya, genannt wird. Seine häufigste Bezeichnung in den Pālitexten ist Bhagava, der Erhabene und Tathāgata (Akzent auf der drittletzten Silbe), letzteres die Bezeichnung, unter welcher der Buddha von sich selber spricht. Die sprachliche Ableitung dieses Wortes ist zweifelhaft. Wahrscheinlich bedeutet es: "der ebenso kommt", d.h. ebenso wie die anderen Buddhas vor ihm, oder: "der dahin, d.h. ans Ziel Gelangte". Gotama ist der Familienname des Buddha. Sein Personenname ist Siddhattha (Sanskrit: Siddhārtha). Sein Geburtsort ist Kapilavatthu (Sanskrit: Kapilavastu), an der Grenze des heutigen Nepāl und damit an der Grenze des arischen Indien gelegen.

Im dreißigsten Lebensjahr, so erzählt die Legende und so berichtet er selber, "schwarzhaarig, in der Blüte der Jugend", tat er den großen Schritt. Er verließ sein Weib, sein kürzlich geborenes Söhnchen, von ihm Rāhula, Fessel, genannt; er verließ das üppige Wohlleben seines väterlichen Hauses und betrat die harte Asketenlaufbahn. Was ihn dazu trieb, war nicht der mystische Überschwang eines gottvollen Herzens, das in der Kargheit des Asketenlebens Rettung vor der inneren Überfülle sucht. Wir haben hier keinen Vorläufer eines Franz v. Assisi. Was ihn trieb, war das Gefühl der Unbefriedigung am Leben, das Suchen nach Sinn und Zweck des Lebens. Er ging nicht, wie die christlichen Asketen, mit der vorgeschriebenen Marschroute und dem festgelegten Ziel des Gottsuchers - er ging als echter, unvoreingenommener Sucher, bereit, entschlossen das zu nehmen, was er finden wird, rücksichtslos dagegen, ob zusagend oder nicht.

Die Bitten, das Widerstreben seiner Eltern, vermochten nicht, ihn in seinem Entschluss wankend zu machen. Fromme Legende hat die große Tat des Entsagens mit dem goldenen Rankenwerk der Phantasie umsponnen. Dichter haben die Legende mit mehr oder weniger Kunst verarbeitet. Am bekanntesten und wertvollsten in dieser Hinsicht ist Asvagoshas Buddha-Carita. Tatsache ist, dass er sich Haar und Bart scheren ließ, die Mönchstracht annahm, von erbettelter Almosenspeise lebte und sich eine Reihe von Jahren den schwersten Kasteiungen hingab, über die er selbst mehrmals in seinen Lehrgesprächen berichtet.

Endlich, auf der Höhe der Selbstpeinigung angelangt, kam ihm die Einsicht: Auf diesem Weg geht es nicht weiter. Das zermürbt den Körper und schwächt den Geist. Alle Übertreibungen sind zu meiden. Der Weg einer vernünftigen Mitte ist einzuhalten, wenn der Mensch das erreichen will, was er als Mensch zu erreichen fähig ist.

In dieser Stimmung kam er nach Uruvela, dem heutigen Bodh-Gaya, einem Ort in der Nähe der Stadt Gaya, in der nordindischen Tiefebene gelegen. Gefesselt von der (auch heute noch bemerkenswerten) Anmut der Landschaft, beschloss er, die Frucht jahrelanger Askese, jahrelangen Nachdenkens hier ausreifen zu lassen.

Mit der Erkenntnisnacht in Uruvela treten wir aus dem Kreis der Legende in den Kreis der Historik. Mit dem Gedankendrama dieser Nacht setzt im Vinaya-Piṭaka der buddhistische Kanon ein. Im ersten Teil dieser Nacht, so berichtet der Text, geht ihm die lang gesuchte Einsicht in das Wesen des Lebens auf. Diese Einsicht formuliert er selber in der zwölfgliedrigen sogenannten Kausalreihe, die mit Nichtwissen als erstem Glied einsetzt und mit Geburt und Sterben, mit Leiden in jeder Form als Schlussglied endet.

Die Erklärung dieser Kausalreihe (Paticcasamuppāda) macht den Gelehrten viel Kopfzerbrechen. Es ist nicht Aufgabe dieses Vortrages, auf die sich im westlichen Denken hier ergebenden Schwierigkeiten einzugehen. Für uns genügt es festzustellen, dass der aus den Tiefen jahrelanger Askese als Buddha aufgetauchte junge Gotama nicht mit dem Vollklang positiver Seligkeiten endet, sondern mit der nüchternen und klaren Einsicht: "Ich habe bisher in einem Nichtwissen (Avijjā) gelebt. Aus diesem Nichtwissen bin ich erwacht, erwacht für immer und erlebe schon jetzt die Folgen meines neuen Wissens in der unerschütterlichen Gewissheit, dass mich nichts mehr an dieses Leben bindet; dass ich erlöst bin vom Leben für immer." Wie es im Wortlaut des Textes in immer wiederkehrender Phrase heißt: "Unerschütterlich ist meine innere Befreiung. Dieses ist die letzte Geburt. Nicht gibt es mehr ein Wiederdasein."

Schon mit diesem Einsatzpunkt stellt sich der Buddhismus zwischen und dabei oberhalb jeder möglichen Glaubenslehre einerseits, jeder möglichen Wissenschaft anderseits. Während jede Glaubenslehre mit einem Glaubensakt einsetzt; während jede Wissenschaft auf ein positives Wissen abzielt, setzt der Buddha mit der Hebung eines Nichtwissens ein, das er selber ein anfangloses nennt. Er bleibt streng innerhalb dieser seiner Aufgabe, die letzten Grundes die einzige eines Wahrheitssuchers würdige ist. Über diese seine Aufgabe: anfangloses Nichtwissen zu heben, geht er nie auch nur um Haaresbreite hinaus. Jeder Versuchung, sich auf ein positives Seligkeitsziel oder auf ein positives Wissensziel festzulegen, widersteht er mit jener ruhigen, oft fast ironischen Sicherheit, wie sie nur das immer wieder neue Selbsterleben der eigenen Lehre geben kann. Vom ersten bis zum letzten Augenblick seiner langen Laufbahn bleibt er der Lehrer, der Wegweiser, der die Wesen vom Nichtwissen und seinen Folgen erlösen will. Derjenige, der in den Buddhismus etwas hineingeheimnissen will, als deute er auf irgend ein positives Wissens- oder Seligkeitsziel, das sich jenseits der Wirklichkeit versteckt, der versteht ihn falsch. Der Buddha selber sagt: "Der Tathāgata hat nichts gleich der geschlossenen Hand des Lehrers, die etwas verbirgt."

Es fragt sich, wohin denn nun bei solchem rein negativen Einsatzpunkt der Buddhismus zu rechnen ist? Ob er eine Religion, ob er eine Philosophie, ob eine bloße Morallehre ist? Die Antwort lautet: Seinem Wesen nach ist er keines von diesem allen. Aber er wird zu diesem allen in seiner Anwendung. Ursprünglich ist er durchaus nichts als ganz allgemein eine Lebenslehre. Freilich auch jede Religion will Lebenslehre sein. Auch Wissenschaft und Philosophie machen als Weltanschauungen Anspruch darauf, Lebenslehren zu sein. Aber Lebenslehre, soll sie diesen Namen mit Recht tragen, muss auch gleichzeitig Wirklichkeitslehre sein und das beweist sie dadurch, dass in ihr Weltanschauung, Moral und Religion inbegriffen liegen und sich als natürliche Wachstumsergebnisse aus ihr entwickeln.

Seine Lebenslehre gibt der Buddha in den Vier Edlen Wahrheiten, den Ariyasaccā.

In den ersten dieser Wahrheiten erklärt er Leben schlechthin als Leiden, als Dukkha. Was im buddhistischen Sinn unter Leiden zu verstehen ist, werden wir sogleich sehen. In der zweiten der Wahrheiten erklärt er die Lebenssucht, den Lebensdurst, Taṇha, als die Entstehungsursache des Leidens. In der dritten Wahrheit erklärt er die Hebung dieser Lebenssucht als die Hebung des Leidens. Und endlich in der vierten Wahrheit erklärt er den Achtgliedrigen Pfad als das Mittel zur Hebung des Leidens. Dieser Achtgliedrige Pfad setzt mit rechter Anschauung, d. h. mit rechter Anschauung über das Wesen des Lebens ein und endet mit rechter Vertiefung, jener Vertiefung, Samādhi, die als innere Einigung kontuitiv in einem einzigen Werdemoment das Dasein begreift.

Es folgt nun der Wortlaut der Vier Edlen Wahrheiten, wie ihn die Texte in stereotyper Form immer wiedergeben:

"Dieses aber, ihr Mönche, ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist leidvoll, Altern ist leidvoll, Krankheit ist leidvoll, an Unliebes gefesselt sein ist leidvoll, vom Lieben getrennt sein ist leidvoll, das was man wünscht nicht erlangen ist leidvoll, kurz: die fünf Formen des Anhaftens sind leidvoll."

"Dieses aber, ihr Mönche, ist die Edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens: eben dieser Lebensdurst, der immer wieder neu entstehende, der mit Lust und Gier verbunden, hier und da sich ergötzende, nämlich der Sinnlichkeitsdurst, der Durst nach Entstehen, der Durst nach Vergehen."

"Dieses aber, ihr Mönche, ist die Edle Wahrheit von der Vernichtung des Leidens: die rest- und spurlose Vernichtung dieses Durstes, Aufgeben, Entsagung, Loslösung, Vernichtung."

"Dieses aber, ihr Mönche, ist die Edle Wahrheit von dem zur Leidensvernichtung führenden Weg: dieser edle achtgliedrige Pfad, nämlich:

Rechte Einsicht, Rechter Entschluss , Rechte Rede, Rechtes Tun, Rechte Lebensführung, Rechte Anstrengung, Rechte Achtsamkeit, Rechte Konzentration."

Die einzelnen Glieder dieses Achtpfades werden in folgender Weise erläutert:

"Was, ihr Mönche, ist Rechte Einsicht? - Was da Wissen ist in Bezug auf das Leiden, Wissen in Bezug auf die Entstehung des Leidens, Wissen in Bezug auf die Vernichtung des Leidens, Wissen in Bezug auf den zur Vernichtung des Leidens führenden Weg - das, ihr Mönche, wird Rechte Einsicht genannt."

"Was, ihr Mönche, ist Rechter Entschluss? - Der Entschluss zum Entsagen, der Entschluss zum Wohlwollen, der Entschluss zur Milde - das, ihr Mönche, wird Rechter Entschluss genannt."

"Was, ihr Mönche, ist Rechte Rede? - Das Meiden von falscher Rede, das Meiden von verleumderischer Rede, das Meiden von schroffer Rede, das Meiden von leerem Geschwätz - das, ihr Mönche, wird Rechte Rede genannt."

"Was, ihr Mönche, ist Rechtes Tun? - Das Meiden des Tötens, das Meiden von Nichtgegebenem, das Meiden unkeuscher Begierden - das, ihr Mönche, wird Rechtes Tun genannt."

"Was, ihr Mönche, ist Rechte Lebensführung? - Da verlässt ein Höherer, der am Edlen hängt, einen gemeinen Lebenserwerb und ergreift einen wohlanständigen Lebenserwerb - das, ihr Mönche, wird Rechte Lebensführung genannt."

"Was, ihr Mönche, ist Rechte Anstrengung? - Da lässt Mönch in sich den Willen entstehen, unaufgestiegene böse und schlechte Dinge nicht aufsteigen zu lassen, er strengt sich an, er setzt seine Kraft ein, er fasst sich ein Herz, schreitet vor. Er lässt den Willen in sich entstehen, aufgestiegene böse und schlechte Dinge zum Schwinden zu bringen, er strengt sich an, setzt seine Kraft ein, er fasst sich ein Herz, schreitet vor. Er lässt den Willen in sich entstehen, nicht aufgestiegene gute Dinge aufsteigen zu lassen und aufgestiegene gute Dinge zur Festigung, zur Klärung, zur Mehrung, zur Reifung, zur Entwicklung, zur Vollendung kommen zu lassen; er strengt sich an, setzt seine Kraft ein, fasst sich ein Herz, schreitet vor."

"Was, ihr Mönche, ist Rechte Achtsamkeit? - Da weilt, ihr Mönche, ein Mönch beim Körper in genauer Betrachtung des Körpers, eifrig, verstehend, einsichtig, nachdem er das Elend weltlicher Begier überwunden hat. Er weilt bei den Gefühlen in genauer Betrachtung der Gefühle, eifrig, verstehend, einsichtig, nachdem er das Elend weltlicher Begier überwunden hat. Er weilt beim Denken in genauer Betrachtung des Denkens, eifrig, verstehend, einsichtig, nachdem er das Elend weltlicher Begier überwunden hat. Er weilt bei den inneren Zuständen in genauer Betrachtung der inneren Zustände, eifrig, verstehend, einsichtig, nachdem er das Elend weltlicher Begier überwunden hat."

"Was, ihr Mönche, ist Rechte Konzentration?" Die Antwort lautet: "Es sind die vier Sammlungen, die vier Versenkungsstufen." Der ganze Wortlaut derselben hat für uns hier kein Interesse.

Wir stellen nunmehr die Frage: Erfüllt die Lebenslehre, wie der Buddha sie mit diesen Vier Edlen Wahrheiten gibt, die Forderung, welche wir oben an eine wirkliche Lebenslehre stellten? Begreift sie in sich, entwickeln sich aus ihr jene drei Hauptstämme des Inneren Lebens: Weltanschauung, Moral und Religion? Ich nenne diese die drei Hauptstämme des inneren Lebens, weil sie auf die drei Grundfragen jedes denkenden Menschen Antwort geben. Diese Grundfragen sind: Erstens die Frage: "Was bin ich?" Zweitens die Frage: "Wie muss ich mich verhalten?" und drittens die Frage: "Wozu bin ich da? Wohin zielt dieses Leben?"

Hierauf antworten wir: Ja! die Vier Edlen Wahrheiten erfüllen diese Forderung. In ihnen liegt die Weltanschauung des Buddhismus als Anattā-Lehre, als Lehre vom Nichtselbst. In ihnen liegt die Moral des Buddhismus als Kamma- (Sanskrit: Karma-) Lehre, als Lehre vom Wirken. In ihnen liegt endlich die Religion des Buddhismus als Nibbāna- (Sanskrit: Nirvāṇa-) Lehre, als Lehre vorn Erlöschen.

An-atta heißt Nicht-Selbst und kann als das erkenntnistheoretische Stichwort des ganzen Buddhismus angesehen werden. Atta (in Sanskrit: Ātma) ist der philosophische Terminus technicus für das Ich als Wesenseinheit, als Seele-begabtes und damit der Ausdruck für Seele selber. Mit seiner Anatta-Lehre sagte sich der Buddha los von jeder Seelentheorie. Er begreift und erklärt das Individuum als frei von jedem Ewigem, an sich Seiendem, als frei von jedem metaphysisch-transzendenten Prinzip; er begreift und erklärt es als frei von Seele.

Die Anatta-Lehre formuliert sich am klarsten in den so genannten Drei-Merkmalen. Die Drei Merkmale, die Tilakkhana's, sind: erstens das Merkmal der Unbeständigkeit, zweitens das Merkmal des Leidens, drittens das Merkmal der Nicht-Selbstheit (Seelenlosigkeit). Der Buddha selber sagt:

"Sei es, dass Vollendete auftauchen, sei es, dass sie nicht auftauchen, so ist doch diese Eigenschaft feststehend, gesetzmäßig, naturnotwendig: dass alle Gestaltungen nichtbeständig (anicca) sind."

"Sei es, dass Vollendete auftauchen, sei es, dass sie nicht auftauchen, so ist doch diese Eigenschaft feststehend, gesetzmäßig, naturnotwendig, dass alle Gestaltungen leidvoll (dukkha) sind."

"Sei es, dass Vollendete auftauchen, sei es, dass sie nicht auftauchen, so ist doch diese Eigenschaft feststehend, gesetzmäßig, naturnotwendig, dass alle Daseinsbedingungen nicht-selbst (anatta, seele-frei) sind."

"Das erkennt und begreift der Vollendete. Und hat er es erkannt und begriffen, so zeigt er es, lehrt es, erklärt es, stellt es dar, eröffnet es, setzt es auseinander, macht es deutlich, nämlich: dass alle Gestaltungen nichtbeständig sind: dass alle Gestaltungen leidvoll sind, dass alle Daseinsbedingungen nicht-selbst sind."

Alle drei Merkmale geben den gleichen Gedanken nur von verschiedenen Standpunkten aus. Das erste Merkmal gibt ihn rein anschauerisch. Das zweite Merkmal gibt ihn gefühlsmäßig. Das dritte Merkmal gibt ihn als Erlebnis, d.h. als Selbsterlebnis; denn schließlich ist ja jedes echte Erlebnis auch immer Selbst-Erlebnis. Alle drei zusammen geben die Weltanschauung des Buddhismus und zeigen gleichzeitig, was bei ihm unter Leiden und leidvoll zu verstehen ist.

Für den Außenstehenden bekommt der Buddhismus durch seine Leidenslehre den Anstrich eines Pessimismus. Eine derartige Vorstellung ist falsch. Leiden im Buddhismus ist nicht Leiden im vulgären oder christlich-biblischen Sinne. Leiden, wie der Buddhist es versteht, ist nur der gefühlsmäßige Ausdruck der Nichtbeständigkeit. Diese letztere aber ist in seiner Wirklichkeitslehre gleichwertig mit Leben selber, woraus sich dann die Identität von Leben und Leiden ergibt.

Immer wieder kehrt in den Texten der Passus wieder: "Sind der Körper, das Gefühl, die Wahrnehmungen, das Unterscheidungsvermögen, das Bewusstsein (d. h. diese ganze Geist-Körperlichkeit, dieses Nāma-Rūpa) beständig oder sind sie nicht beständig?" Die stereotype Antwort lautet: "Nicht-beständig". Dann weiter: "Und was nicht- beständig ist, ist das leidvoll oder freudvoll? Antwort: "Leidvoll". Und weiter: "Und was nicht-beständig, leidvoll ist, kann man von dem sagen: Das bin ich, das ist mein Selbst?", worauf die stereotype Antwort lautet: "Nein!"

Leiden im Buddhismus ist nicht eine Eigenschaft, ein Akzidenz des Lebens, das in irgend einer transzendenten Dauerform vom Lebenskern abfallen kann; anders ausgedrückt: Leben ist nicht etwas, das Leiden hat, sondern das Leiden selber ist. Daher heißt hier Leiden ablegen nicht: den äußeren Schmutz und Staub von einem ewigen Wesenskern ablegen und zu einer unvergänglichen Dauerform übergehen. Eine solche Anschauung verwirft der Buddha als nicht wirklich. Eine ewige Daseinsform, an welche Vergänglichkeit und damit Leiden nicht mehr rühren können, eine solche Daseinsform erkennt er als der Wirklichkeit widersprechend, nicht an. Wo Leben ist, da ist auch Vergänglichkeit, rücksichtslos dagegen, in welcher Form dieses Leben gelebt wird, ob als Menschenleben ob als Götterleben. Götter gibt es genug im Buddhismus; aber sie stellen nichts dar als eine Modifikation, der Naturwissenschaftler würde sagen einen "Spezialfall" dieses wirklichen Lebens hier. Auch ihr Dasein, mag es sich in scheinbar unendlichen Zeiten abspielen, ist der Vergänglichkeit unterworfen. Jedes Leben, jedes Dasein, jedes Sein, rücksichtslos in welcher Form es sich lebt, löst sich für den Buddhisten als wirklichen Denker auf in ein Werden. Der Buddhist kennt und anerkennt kein Sein, sondern nur das Werden. Wie Heraklit, so sagt auch der Buddha: "Das Werden schaue ich an." Aber was bei Heraklit bloß anschauerisch blieb, das wurde beim Buddha Wirklichkeit, Erlebnis. Wo Werden, da Entstehen-Vergehen. Wo Entstehen-Vergehen, da Unbefriedigung, Leiden. Hiermit ist kein Pessimismus gegeben, sondern lediglich ein Urteil über das Leben auf Grund einer wirklichen Einsicht in sein Wesen. Weil der Buddha Leben als Anatta, wesenlos erkannte, als etwas, das keinen ewigen Kern in sich birgt, als etwas, hinter dem als Folie kein Transzendentes steht, von dem aus es Sinn und Bedeutung erhält - ich sage: weil der Buddha Leben so erkannte, deswegen wurde ihm Leben gleich-bedeutend mit Leiden und deswegen fasst er sein Urteil über das selbe in lapidarer Kürze in das eine Wort zusammen: Es genügt nicht! Es ist das "Gewogen und zu leicht befunden", auf Leben selber angewandt.

Es fragt sich: Wo liegt die Berechtigung für eine derartige Anschauung des Lebens, wie sie in den drei Merkmalen gegeben ist? Die Antwort lautet: Die Berechtigung für eine solche Anschauung liegt in uns selber. Jeder einzelne ist sich selber Beweis für diese Anschauung und kann diesen Beweis sich selber erbringen in einer Form, die eines äußeren Beweises nicht mehr bedarf - als Selbsterlebnis. Ein solches Selbsterleben braucht in Bezug auf seine Richtigkeit nicht bewiesen werden, nicht deshalb weil es unbeweisbar wäre, sondern weil es sich durch sich selbst beweist, ebenso wie etwa ein Schmerz, eine Lust nicht erst als solche bewiesen zu werden brauchen, aber deswegen durchaus nichts Unbeweisbares sind, sondern sich durch sich selbst beweisen. Man bedenke wohl, dass diese Art des Beweises jeder Wirklichkeit eigen ist, und wenn wir unter Beweis nur das Bewiesen werden verstehen, so ist das eine einseitige Beeinflussung, die unser Denken durch die Wissenschaft erfahren hat. Es gibt eben ein Mittleres zwischen der Unbeweisbarkeit des Glaubens und der Beweisbarkeit der Wissenschaft. Dieses Mittlere ist das sich durch sich selber Beweisen, wie es jeder Wirklichkeit eigen ist. Diesen Gedanken möge man wohl verarbeiten, ehe man an die Wirklichkeit den Maßstab des induktiven Beweises legt und ihren Wirklichkeitsgehalt nach der Zugänglichkeit für diesen induktiven Beweis beurteilt. Wirklichkeit trägt ihre Daseinsberechtigung in sich selber und hat nicht nötig, nachträglich den Beweis für die selbe zu bringen.

Die Inschau, der Augenaufschlag nach innen ist der wahre und wirkliche Einsatzpunkt alles Buddhismus's. Wer unter Übergehung dieses Einsatzpunktes zum Buddha kommen will, der gleicht dem Menschen, der zur Blüte und Frucht kommen will unter Übergehung des Samens. Wem die Lust oder die Kraft fehlt, Einkehr bei sich selber zu halten, nicht als gefühlsmäßiger Schwärmer, sondern als ruhiger Forscher, wem die Lust und die Kraft fehlt, sein Denken gegen sich selber zu kehren und sich als das zu erleben, was er eben in Wirklichkeit ist - wem es an dem hierzu nötigen Wirklichkeitssinn fehlt, der wird dem Buddha weder theoretisch noch praktisch folgen können. Immer wieder muss es gesagt werden: Buddhismus betreiben heißt letzten Grundes nichts als sich selber, als das erleben, was man in Wirklichkeit ist. In diesem Sinne ist Buddhismus Wirklichkeitslehre. Er befasst sich nicht mit all den zahllosen Realitäten, wie die Wissenschaft und das tägliche Leben sie bieten; er befasst sich nur mit den Werten, die das Selbsterleben als immer neue Wirklichkeiten zu Tage fördert. Als Wirklichkeitslehre dieser Art lässt er sich nicht in Begriffe fassen und wie einen verdeckten Korb unbesehen von Hand zu Hand weiter geben. Wirkliches Denken ist Form der Ernährung, wie Essen, Trinken, Atmen auch. Denken ist Essen. Essen erlaubt keine Ersatzmannschaft. Essen heißt selber essen. Wer den Buddha wirklich verstehen will, der muss das selber erleben, was der Buddha erlebt hat, und das kann er nur in der Inschau. Der Buddha kann nur den Weg weisen; ihn gehen muss jeder selber. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn es in den Texten heißt: "Er erkennt selbständig, keiner fremden Hilfe bedürfend." Schon hier beim ersten Einsatzpunkt erscheint das Moment der Selbständigkeit, des geistigen Erwachsenseins, das den ganzen Buddhismus kennzeichnet.

Gleichzeitig lassen sich aber auch die Schwierigkeiten ahnen, die es machen muss, ihm im Denken der Menschen Eingang zu verschaffen. Diese Schwierigkeiten treffen sicher nicht nur unsere Zeit. Der Buddha selber klagt darüber. Er selber sagt: "Mag ich die Lehre in Kürze darlegen, mag ich sie ausführlich darlegen - Versteher sind schwer zu finden." Und sie sind schwer zu finden, weil es sich hier nicht um Lehrgegenstände und Programme handelt, sondern um selbständiges Denken und um den Entschluss, sich an sich selber zu halten.

Mein eigenes Ich ist das einzige Ding der Welt, das mir unmittelbar zugänglich ist. Alles andere ist mir nur mittelbar, auf dem Umweg über die Sinne zugänglich. Bei mir, in meinem eigenen Innenleben liegt Einsatz- und Ansatzpunkt jeder Weltanschauung. Diesen Einsatzpunkt hat der Buddha intuitiv als solchen begriffen. Darin liegt das geniale Moment und der sich nie erschöpfende Wirklichkeitsgehalt seiner Lehre. Vom eigenen Innern aus wurde er selber des Lebens Herr und an das eigene Innere verweist er daher immer wieder seine Jünger und alle, die ernsthaft bemüht sind ihm zu folgen. "Dort stehen Bäume, dort laden leere Räume ein. Haltet Inschau, werdet nicht nachlässig und alles, was ihr sucht und wünscht, wird sich euch dort erfüllen, vorausgesetzt dass ihr als unvoreingenommene Wahrheitssucher kommt und nicht nur um etwas zu finden, was ihr euch schon vorher als Ziel gesteckt habt." Auch der Glaube weist an das eigene Innere, aber er begeht eben den Fehler, dass er sich bei seinem Suchen in Bezug auf das Ziel schon festgelegt hat. Auch die moderne Wissenschaft in Form der Psychologie weist an das eigene Innere, aber sie will das, was nur unmittelbar, intuitiv zu erfassen ist, induktiv fassen und verliert sich dabei in ihre unendlichen Reihen.

Wir glauben hiermit die Notwendigkeit der Inschau, die Notwendigkeit, sich unmittelbar an sich selber zu wenden, genügend hervor gehoben zu haben und gehen nun zu der Frage über: Was ist das Ergebnis dieser Inschau?

Wir haben dieses Ergebnis schon vorher in dem Stichwort "Anatta", Nichtselbst, formuliert. Aber das ist eine bloße Negation und für den Wahrheitssucher wäre wenig damit geholfen. Denn aus der vollkommensten Negation wird sich nie eine Wahrheit, sondern günstigsten Falles immer nur eine unendlich große Wahrscheinlichkeit ergeben. Bliebe es als Ergebnis der Inschau bei der bloßen Negation, so wäre der Buddha nichts als der Vorläufer der modernen Wissenschaft - der Vorläufer Humes in der Philosophie, der Vorläufer der mechanisch-materialistischen Weltanschauung in der Naturwissenschaft. Aber das Anatta bleibt nicht bei der bloßen Negation stehen, es erhält einen Sinn, wie er dem Charakter einer Wirklichkeitslehre einspricht.

In den Lehrreden wird dem Buddha die Frage vorgelegt: "Sind das Leben und der Leib ein und das selbe?" Worauf er erwidert: "Das ist das eine gedankliche Ende." Es folgt die Frage: "Ist das Leben eines und der Leib ein anderes?" Worauf er erwidert: "Das ist das andere gedankliche Ende. Beide Gegensätze meidend zeigt der Erhabene den mittleren Weg."

Dieser mittlere Weg ist der, dass in der Buddha-Einsicht der ganze Lebensvorgang restlos zu einem Verbrennungsprozess wird. Der Buddha vergleicht das Leben mit der Flamme. In seiner berühmten Feuerpredigt [Mvg 54] sagt er: "Alles ist ein Brennen." Die Dinge, meine Objekte sind ein Brennen; ich, das Subjekt der Dinge, bin ein Brennen und die immer neue Vereinigung zwischen mir und den Dingen ist gleichfalls ein Brennen. Alles brennt.

Aus dieser Einsicht ergibt sich der wahre Sinn des Anatta. In der Wirklichkeitslehre des Buddha ist das Lebewesen kein bloßer Mechanismus, wozu die moderne Naturwissenschaft es machen will. Es ist aber auch kein mit einem ewigen Wesenskern, mit einer Seele Begabtes. Es ist, kurz gesagt, ein individueller Verbrennungsprozess, eine Flamme. Das Wesen einer Flamme beruht darauf, dass sie sich selbsttätig unterhält, d.h. dass sie sich selber immer wieder frisch entzündet. Damit eine Flamme da ist, muss sie immer wieder neu werden. Ihr Dasein ist nichts als dieses immer wieder Neu-Werden. Die Kraft, auf Grund deren sie da ist, kann also keine Kraft sein, die als etwas an sich Seiendes, Unveränderliches in ihr ruht. Es muss eine Kraft sein, die aus ihren eigenen Vorbedingungen immer wieder neu aufspringt, d.h. eine Kraft, die sich zusammen mit, in Abhängigkeit von ihrer eigenen Erscheinungsform entwickelt; die also nicht als ein qualitativ Verschiedenes in dieser ihrer Erscheinungsform stecken kann, sondern die mit dieser ihrer Erscheinungsform ein organisches Ganzes bildet und sich zusammen mit ihrer Erscheinungsform ändert, sich entwickelt, etwa ebenso wie sich der Zündfunke zur Flamme entwickelt und damit selber zur Flamme wird.

Die Kraft, auf Grund deren eine physikalische Flamme da ist, kennen wir nicht. Wir sehen nur, dass eine derartige Kraft da sein muss aus der Tatsache, dass die Flamme sich selber unterhält. Die Kraft, auf Grund deren eine biologische Flamme, d.h. ein Lebewesen da ist, hat der Buddha im Lebenswillen erkannt, im Lebenstrieb, buddhistisch gesprochen: im Lebensdurst, Taṇha; womit wir aus der ersten der Edlen Wahrheiten in die zweite treten.

Taṇha, der Lebensdurst, ist keine Kraft an sich als ein Seiendes, Ewiges, sondern eine Kraft, die aus ihren eigenen Vorbedingungen immer wieder neu aufspringt und so den Lebensvorgang, die Ich-Flamme, in Gang erhält; ebenso wie die Wärme-Energie aus ihren eigenen Vorbedingungen immer wieder neu aufspringt und so erst das nächste Entzündungsmoment schafft. Kraft verliert hier den Charakter des Konstanten, Unbedingten, den sie in den Glaubensreligionen - als Seele - hat und wird zu einem Wert, der ebenso wechselt wie die Körperlichkeit eine organische Einheit, wird zu dieser Körperlichkeit selber, ebenso wie der Zündfunke zur Flamme wird. Eine solche wirkliche, der Wirklichkeit angehörende Kraft ist weder ein unbedingter Wert, eine Seele, wie in den Glaubensreligionen, noch ein bloß bedingter Wert, wozu die Wissenschaft sie machen will, indem sie Leben zu erklären und in seiner ersten Entstellung nachzuweisen sucht, sondern sie ist ein sich selber bedingender Wert. Anders ausgedrückt: der Glaube sagt: "Ich kann wollen, weil eine Kraft an sich, eine Seele in mir ist, deren Funktion das Wollen ist." Die Wissenschaft sagt: "Ich kann wollen, weil es die Funktion gewisser Organe ist." Der Buddha sagt: "Ich kann wollen, weil ich vorher gewollt habe; weil meine Daseinsbedingungen so beschaffen sind, dass sie, sobald äußere Anregungen hinzu treten, immer wieder neue Willensregungen aus sich hervor gehen lassen." Noch anders ausgedrückt: Der Wille weist in den Glaubensreligionen auf eine Seele, in der Wissenschaft auf ein bestimmtes Organ, im Buddhismus auf sich selber zurück.

Damit vollzieht sich eine merkwürdige Umwandlung in der Beurteilung des Inneren Lebens. Wir sind gewohnt, dieses Innere Leben entweder als Funktion der Materie zu betrachten oder in ihm den Ausdruck einer Seelentätigkeit zu sehen. Die Einsicht des Buddha verlangt nun, dass jeder sein Inneres Leben, wie es sich ihm in seinen Willensregungen darstellt, weder als Funktion der Materie noch als Funktion einer Seele ansieht, sondern unmittelbar als Kraft selber. Das was jeder einzelne als Willensregung in sich erlebt, ist nicht Ausdruck unbekannter Kräfte, materieller oder geistiger Natur, sondern es ist das Spiel des Lebens, Kraft selber. Kraft ist eben nichts weiter als das, als was ein jeder sie in sich selber erlebt. Sie kann mit nichts anderem verglichen werden, sie kann nicht auf ein Bild oder irgend eine Formel zurück geführt werden. Sie ist sie selber und weiter nichts, wird als solche von jedem Einzelnen unmittelbar in sich selber erlebt und nichts ist nötig als Unvoreingenommenheit und Wirklichkeitssinn, um sie als solches zu begreifen.

Leben spricht sich selber aus; man muss nur belehrt werden, lauschen und es ausreden lassen. Leben ist hier keine Unbegreiflichkeit mehr wie im Glauben. Leben ist hier aber auch nicht etwas, das begriffen werden soll, wie in der Wissenschaft. Leben wird hier zu etwas, das in der Inschau sich selber begreift. Der Wille ist die einzige Kraft der Welt, die unmittelbar als solche zugänglich ist, aber zugänglich nur für sich selber, für den, der sie selber als solche erlebt. Damit fällt die Möglichkeit, Kraft als ein "Etwas" im materiellen oder spirituellen Sinne irgend welcher Art aufzufassen. Sie ist nichts als dieser eigenartige, individuelle Spannungszustand, der dem von ihm verarbeiteten Lebensmaterial die persönliche Eigenart gibt, sowohl in Bezug auf die äußere Form als auch in Bezug darauf, wie der Betreffende in seinem Fühlen und Denken in Bezug auf die Außenwelt reagiert. Als dieser eigenartige Spannungszustand ist sie überall im ganzen Körper, ohne doch in irgend einem Sinne "Etwas" zu sein. Um einen rohen Vergleich zu brauchen: Wie die magnetische Kraft, die wir nicht kennen, eine Masse von Eisenteilchen zu einem in bestimmten Spannungszustand gehaltenen Körper formt, so formt die Ichkraft, die ein jeder unmittelbar als sein Wollen erleben kann, das von ihr beschlagnahmte und verarbeitete Lebensmaterial. Und wie diese magnetische Kraft überall innerhalb dieses magnetischen Gebildes ist und doch nirgends als "Etwas" ist, sondern nichts ist als der eigenartige Spannungszustand, der dem Ganzen den Halt und die Daseinsmöglichkeit gibt, so ist auch die Ichkraft überall innerhalb der Körperlichkeit und ist doch nirgends als "Etwas", sondern ist nur dieser eigenartige Spannungszustand, der dem Lebewesen Halt und Daseinsmöglichkeit gibt und es zur Persönlichkeit macht.

In diesem Sinne muss man sich üben, Kraft zu begreifen, will man dem Buddha in seiner Kamma- und Nibbāna-Lehre folgen. Kraft, wie der Buddha sie lehrt, ist weder sinnlich, d.h. Beweisgegenstand, noch übersinnlich, d.h. Glaubensgegenstand. Sie ist dieser eigenartige Spannungszustand, wie jeder ihn unmittelbar als sein Wollen erlebt.

Dieser Gedanke kann nicht oft genug betont und behandelt werden. Schnellt Denken nicht in sich selber ein, Begreift es nicht die Ursprünglichkeit, die Unmittelbarkeit der inneren Regungen, so spricht der Buddha vergeblich. Seine Lehre wird abgewiesen oder in toten Begriffen verarbeitet - eines so unergiebig wie das andere. Schnellt man aber intuitiv ein in diesen einfachsten und größten Gedanken, begreift man hier im eigenen Innern das Leben in seiner triebhaften Ursprünglichkeit, naturwissenschaftlich gesprochen: in seinem status nascendi, in flagranti, so ist alles getan und der aus dem Zauberkreis konventioneller Begriff befreite Geist kann frei dem Buddha weiter folgen. Die beglückende Gewissheit, sich im Einklang mit der Wirklichkeit zu befinden, wird ihn auf das Glück transzendenter Perspektiven leicht verzichten lassen, mag im übrigen seine neue Gewissheit auch noch so schüchtern sein.

Bei einem, der den Buddha-Gedanken bis hierher hat verwirklichen können, beginnt sofort das Umdenken, das man mit einem Einschmelzen aller konventionellen Werte vergleichen könnte.

Kraft ist an der Wirklichkeit das einzig wirkliche. Wirklichkeit ist nicht wirklich in den Formen und Körperlichkeiten, welche sie darstellt, sondern in den Kräften, auf Grund deren diese Formen und Körperlichkeiten da sind. Ein Beispiel mag zur Erläuterung dienen:

Im atmosphärischen Spiel der Kräfte sind nicht Regen, Hagel und Schnee als solche da. Eine Vorstellung, die derartiges annähme, wäre kindisch und entspräche dem primitiven Stand der Naturbeobachtung. Das Wirkliche bei diesem Spiel sind Kräfte, die sich je nach Umständen und Vorbedingungen immer wieder neu einkleiden. Auf einem entsprechend vorgeschrittenen Stand des Erkennens steht der Buddhismus. Das, was dem vulgären Denken als Wirklichkeit imponiert: Form und Körper, das ist ihm nur scheinbare Wirklichkeit. Was wir hier bei uns selber und den Anderen als Persönlichkeiten sehen, die sind in Wahrheit gar nicht als solche da, ebenso wenig wie Regen, Hagel und Schnee in Wahrheit als solche da sind. Die einzelnen Wirklichkeiten des Weltgeschehens sind die zahllosen einzelnen Lebenssüchte, Lebenstriebe, Lebenswillen und das, was an Formen und Körpern sichtbar wird, ist nichts als der immer wieder neu vor sich gehende Prozess des sich selber Einkleidens dieser Kräfte. Für den Buddhisten gibt es keine Persönlichkeiten im vulgären Sinne. Für ihn gibt es nur wandelnde, wirkende, sich immer wieder neu verwirklichende Lebenstriebe, die sich gleich der Flamme dadurch unterhalten, dass sie die Außenwelt an sich reißen, verarbeiten, assimilieren.

Von diesem Standpunkt aus wird das, was wir bisher als ein reales Ich, als eine wirkliche Persönlichkeit angesehen haben, sozusagen entselbstet - nicht entwirklicht, zu einem bloßen Schein gemacht, sondern entselbstet. Es gibt nur Lebenstriebe, Lebenswillen, deren ganzes Dasein, wie das der Flamme auch, durchaus nichts ist als dieses Ansichreißen der Außenwelt in körperlicher und geistiger Form. Als was sind diese Lebenstriebe, diese Lebenswillen da? - Als sie selber! Als das, als was man sie unmittelbar erlebt; als weiter nichts. Das muss begriffen werden.

Buddhistischer Auffassung nach ist das Lebewesen ein Nāma-Rūpa, eine Geistkörperlichkeit, dessen Dasein aufgeht in seinem Funktionieren. Nāma in dieser Zusammensetzung bedeutet nicht Name. Wenn die westlichen Gelehrten das Wort meist so übersetzen, so ist das ein Irrtum. Nama bedeutet hier: Das, was beugt. Und gemeint ist hiermit das geistige Prinzip des Lebens, sozusagen das Namhafte am Ich, welches den grob körperlichen Teil in jener besonderen individuellen Weise beugt, ballt, formt, dass eben eine Persönlichkeit, ein Einzigartiges daraus wird. Das körperliche Teil, Rūpa, ist das, was sich sinnlich als solches darstellt, das Objektive am Lebewesen. Das geistige Teil, Nāma, ist das, was sich innerlich jedem Einzelnen unmittelbar darstellt, das Subjektive am Lebewesen.

Diese Gliederungen des inneren Lebens sind: Das Gefühl, die Wahrnehmung, die Unterscheidungen und das Bewusstsein oder genau gesprochen: Das Bewusstwerden. Denn ein Sein irgend welcher Art gibt es im Buddhismus nicht. Alles löst sich in dieser Wirklichkeitslehre auf zu einem Werden. Diese vier: Gefühl, Wahrnehmung, Wille, Bewusstsein machen mit dem Körper zusammen die fünf Khandhas aus, in welchen sich das ganze Lebewesen restlos begreift. Sie sind nicht etwa begriffliche Wesenheiten, präformierte Fähigkeiten, wozu unsere Wissenschaft sie machen will, sondern sie sind nichts als die Formen, in welchen der sich betätigende Lebenstrieb mit der Außenwelt in Beziehung tritt, diese Außenwelt körperlich und geistig verarbeitet. Daher heißen diese fünf Khandhas auch die Pañc'upādānakkhandhā, die fünf Formen des Ergreifens, d.h. die fünf Formen, in denen die Außenwelt vom Lebewesen ergriffen, verarbeitet, assimiliert wird. Fühlen, Wahrnehmen, Wollen, Bewusstwerden sind Formen der Ernährung, wie Essen, Trinken und Atmen auch; ein Essen in geistiger Form, in der ich die Außenwelt an mich heran reiße. Mein Fühlen, mein Wahrnehmen, mein Unterscheidungsvermögen, mein Bewusstsein habe ich nicht als unbegreifbare Fähigkeiten einer unbegreifbaren Seele, sondern ich bin dieses alles selber, ich löse mich restlos auf in dieses Spiel, das man nicht mehr ein Spiel der Funktionen, sondern ein Spiel des Funktionierens nennen muss. Kurz: was bisher am Ich als ein Sein imponiert hatte, wird völlig aufgelöst in ein Werden, in diesen beständigen Assimilationsprozess zwischen Lebewesen und Außenwelt, ebenso wie die Flamme in rechter Einsicht auch zu einem reinen Werden wird, zu einem reinen Assimilationsprozess zwischen sich und der Außenwelt. Wie die Flamme durchaus nichts ist als dieser Assimilationsprozess, so ist das Ich durchaus nichts als dieser Assimilationsprozess, dieser beständige Übergangsprozess zwischen sich und der Außenwelt, an dem freilich das einzig beständige der Wechsel ist.

Jeder, der es ernst mit der Wahrheit meint, mache es sich zur Pflicht, diesen Gedanken durchzudenken, auszudenken. Dieser Gedanke spukt überall in unseren Anschauungen herum. Wenn man behauptet, dass in einer Reihe von Jahren sich alles am Körper erneuert, so anerkennt man auch den flammenartigen Charakter des Lebensvorgangs. Aber man wagt nicht bis zu Ende zu denken. In scheuer bzw. von Generationen her ererbter und immer wieder neu gezüchteter Ehrfurcht macht man vor irgend etwas Unbekanntem halt, das als ein Ewiges, Unveränderliches, als Seele an diesem flammenartigen Charakter des Daseins nicht Teil nehmen soll. Durch diese gedankliche Voreingenommenheit hindert man sich selber, zur Anatta-Lehre, d.h. zur Wirklichkeit zu kommen. Diese Voreingenommenheit ist das, was der Buddha das Nichtwissen, den allmenschlichen Wahn nennt. Als Lehrer tritt er vor die Menschen und spricht: Versucht das Leben, die Tatsache "Dasein" so aufzufassen, so zu begreifen wie ich es euch zeige. Lasst euch nicht durch Gelehrsamkeiten, durch Glaubensdogmen beirren und ihr werdet finden, dass eine Notwendigkeit zur Annahme eines ewigen Prinzips im Menschen, einer Seele gar nicht vorliegt. Alles lässt sich auflösen in dieses Spiel des Werdens, das dem Einzelnen, wenn er nur Geduld und Achtsamkeit hat, sich restlos auftut. Nur auf eines müsst ihr dabei verzichten, nur eines müsst ihr dabei fahren lassen: Die Vorstellung von einem wahren Ich, von einer Ich-Wesenheit, die im innersten Inneren einer jeden Persönlichkeit steckt. Ein derartiges Ich gibt es nicht. Es gibt hier nur das Wirken, das, gleich der Flamme, immer wieder, immer weiter sich selber wirkt und dem alles Persönliche abgeht. Dass dieses individuelle Wirken den Charakter des Persönlichen, des Ich und des Du bekommt, das ist eben das allgemeine menschliche Nichtwissen, das im Denken, in geduldiger Inschau, in besserer Einsicht ausgeglüht werden muss.

In einer Lehrrede heißt es folgendermaßen:
"Wer, o Herr, berührt denn nun?"
Der Erhabene antwortet: "Die Frage ist nicht richtig. Ich sage ja nicht: ?Er berührt'. Wenn ich sagen würde ?Er berührt', so würde derjenige, der da frage ?Wer berührt?' richtig fragen. Ich sage derartiges nicht. Wenn man mich, der ich derartiges nicht sage, fragen würde: ?Durch was wird Berührung?' so wäre diese Frage richtig. Dann wäre die richtige Antwort: ?Durch die Sechssinnengrundlage wird Berührung. Durch Berührung wird Empfindung'."

Von Buddhismus im wirklichen Sinn kann nur da die Rede sein, wo dieser Prozess des Umdenkens von Leben und Persönlichkeit, diese Entselbstung vorgenommen worden ist. Das Reden von Buddha, von Karma und Nirvāna das macht keinen Buddhisten. Buddhismus ist Umdenken, ein Umdenken, das nur am eigenen Ich vollzogen werden kann. Die gedanklichen und praktischen Folgen stellen sich dann von selber ein. Der Philosoph Lichtenberg meint an einer Stelle seiner geistreichen Schriften: Wie man sage "Es blitzt, es donnert", so solle man auch sagen "Es denkt". Das ist ein gutes Beispiel, wie jemand die Wahrheit ahnen kann ohne sie zu sehen. Er bleibt bei dem geistreichen Apperçu, ohne die Tiefe des Gedankens zu begreifen, ja ohne auch nur den Versuch dazu zu machen. Die kritische Philosophie, ebenso die moderne Wissenschaft bemühen sich gleichfalls, das Fehlen eines wahren Ich, einer wirklichen Persönlichkeit, einer realen Wesenseinheit zu beweisen. Aber sie alle denken nicht durch bis zu jener Tiefe, in welcher aus dieser Einsicht sich eine geschlossene Lebenslehre entwickelt. Das hat nur der Buddha getan. Er begnügte sich nicht damit, den Ich-Begriff zu analysieren, zu zerfasern, zu zerstören - die Tiefe und Ernsthaftigkeit, die Kraft seines Denkens war groß genug, um aus den zerstörten Denkformen neue Wirklichkeiten hervor gehen zu lassen. Aus dem Anatta als individuellem Einsatzpunkt formte sich ihm eine Weltanschauung, die dem ganzen Weltgeschehen einen neuen, unerhörten Charakter gab.

Wir treten damit auf die Kamma-Lehre zu, welche den Übergang von der Weltanschauung des Buddhismus zu seiner Moral bildet.

Was Kamma (Sanskrit: Karma) ist, ist vorhin schon gesagt worden. Kamma bedeutet Wirken und der Buddha versteht darunter nichts als das individuelle Wirken, wie es sich im Denken, Reden, Handeln des Einzelnen darstellt. Es ist einer der größten Fehler, die man dem Buddhismus gegenüber machen kann, wenn man sich Kamma als eine Art kosmische Potenz, als eine Art Weltrichter vorstellt, der den gesetzmäßigen Ablauf des Weltgeschehens beaufsichtigt. Noch ein Mal: Kamma ist durchaus nichts als das Wirken des Einzelnen in Taten, Worten und Gedanken.

Die Kamma-Lehre geht aus der Kraftlehre hervor. Ist die Kraft, auf Grund deren ein jedes Wesen da ist, sein eigener Lebensdurst, so wird Kraft zu einem individuellen Wert. Das monarchische Gefüge der Welt, das die Glaubensreligionen geben, das die Wissenschaft anstrebt, erhält sozusagen republikanischen Charakter. Jeder einzelne wird zu einer Welt für sich, die mit der übrigen Welt nur durch den Vorgang der Ernährung, nicht aber in Bezug auf den Wesenskern zusammen hängt. Wir essen alle aus einer Schüssel, aber Esser ist jeder für sich. Eine der ganzen Welt gemeinsame Kraft transzendenter oder nichttranszendenter Art fällt fort. Kraft als Willensregung erlebt, wird zu etwas, das vom Einzelnen unmittelbar begriffen werden kann.

Etwas begreifen tut man nur dann, wenn man seinen Werdegang begreift. Der Beweis dafür, dass Kraft begriffen ist, wird dadurch erbracht werden, dass man ihren Werdegang zeigt. So ergibt sich die Frage: Wenn die Kraft, auf Grund deren das einzelne Lebewesen da ist, der Wille ist, woher stammt denn diese Kraft? Wie ist der Wille in das Lebewesen hinein gekommen?

Die Antwort des Buddha auf diese Frage lautet: Der Wille, der Lebenstrieb, auf Grund dessen ein Wesen da ist, stammt aus eben dieses Wesens eigener früherer Daseinsform.

Wir sind damit bei der Wiedergeburtenlehre des Buddhismus angelangt.

Will man dieser fremdartigen Abstammungslehre folgen, ohne den Verlockungen der Glaubensreligionen und der Wissenschaft nachzugeben, so muss man das, was vorhin auseinandergesetzt wurde, wohl durchdacht haben. Es wurde gesagt: das Wirkliche an der Wirklichkeit sind die zahllosen einzelnen Lebenstriebe. Jede wirkliche Abstammungslehre muss notwendig das betreffen, was am Wesen das Wesentliche ist. Eine Abstammungslehre, die nur auf das Körperliche geht, wie die der Wissenschaft, ist keine wirkliche Abstammungslehre. Wirkliche Abstammungslehre muss Kraft selber betreffen. Eine solche Abstammungslehre gibt der Buddha, indem er lehrt, dass jedes Wesen in seiner jetzigen Daseinsform die unmittelbare Fortsetzung seiner vorigen Daseinsform ist, soweit es das Wesentliche an ihm, die Lebenskraft betrifft. Nur die Umkleidung hat gewechselt.

Wie überall, so steht auch hier der Buddhismus in der Mitte zwischen Glauben und Wissenschaft und gleichzeitig oberhalb beider. Die Wissenschaft, welche ebenso wie das vulgäre Denken auf das Sinnliche, Körperliche eingestellt ist, lässt das Lebewesen restlos von seinen Eltern abstammen. Sie gibt also eine rein sinnliche Abstammungslinie, die als solche den Vorzug hat, sich dem vulgären Denken ohne weiteres zu empfehlen. Anderseits der Glaube in Form der Offenbarungsreligionen lässt die Wesen von Gott abstammen, indem er lehrt, dass das Wesentliche an ihnen nicht das Leibliche ist, sondern die Seele. Diese stammt dem Glauben nach von Gott ab und dem gegenüber wird die Tatsache, dass das Leibliche von den Eltern abstammt, belanglos. Zu einem derartigen Glauben gehört nun einmal Glauben, und Glauben kann nicht gelernt werden.

Zwischen der sinnlichen Abstammungslehre der Wissenschaft und der übersinnlichen des Glaubens und gleichzeitig oberhalb beider steht die Wirklichkeitslehre des Buddha. Er gibt auf die Frage: "Woher stammt das Lebewesen?" die nüchterne aber völlig überraschende Antwort: Es stammt von sich selber ab, indem die Kraft, auf Grund deren es jetzt da ist, die unmittelbare Fortsetzung der Kraft ist, auf Grund deren es in anderer Einkleidungsform vorher da war. Wie oben gesagt wurde: der Wille weist auf sich selber zurück. Jedes Lebewesen wird in dieser neuen Einsicht sein eigenes Nacheinander. Um jetzt da zu sein, muss es vorher vergangen sein. Es muss aus der vorhergehenden Daseinsform in diese jetzige hinein gestorben, oder was hier das gleiche ist: hinein geboren sein. Denn der ganze Vorgang von Sterben und Neuentstehen, von Tod und Geburt ist nichts als eine Phase in dem immer neuen Einkleidungsprozess individueller Kräfte. Je nach dem eingenommenen Standpunkt kann man diesen Vorgang ebenso gut Sterben wie Geborenwerden nennen, in der selben Weise, wie man eine Pforte je nach dem Standpunkt Eingang oder Ausgang nennen kann.

Dieser Gedanke klingt uns so fremdartig, dass schon ein gut Teil geistiger Beweglichkeit und Unvoreingenommenheit dazu gehört, um ihn überhaupt zu prüfen. Um sich in ihn einzuleben, um ihn als die einzig wirkliche der drei Abstammungslehren zu begreifen, dazu gehört viel Geduld, viel Nachdenken und nicht zum mindesten der Mut der Naivität.

Die erste Folgerung, die sich aus diesem Gedanken ergibt, ist die Frage: Ist nun diese jetzige Daseinsform die gleiche wie die vorige Daseinsform, oder ist sie eine andere? Diese Frage ist dem Buddha selber häufig gestellt worden und seine Antwort hat jene merkwürdige Zweideutigkeit, die ihm die westlichen Logiker so übel nehmen, die aber unmittelbares Ergebnis seiner Wirklichkeitslehre ist. Er antwortet nämlich auf diese Frage: Das Lebewesen der einen Existenz ist weder das gleiche noch ein anderes wie das der anderen Existenz. Und zum Vergleich führt er die Flamme an. Wie eine Flamme in einer Nachtwache nicht die gleiche ist wie in der anderen und dabei doch keine andere, so geht es auch mit dem Lebewesen. Die Kraft brennt weiter, unterbrechungslos weiter, aber mit dem verarbeiteten Material wechselt sie selber. Und die Frage nach der Identität oder Nicht-Identität der einander folgenden Daseinsformen wird hier in sich hinfällig; denn hier, in dieser neuen Einsicht, bleibt ja überhaupt gar nichts mehr, auf das der Begriff Identität noch anwendbar wäre. Hier gibt es überhaupt keine Ich-Identität. Hier gibt es nur das unterbrechungslose Weiterbrennen, das immer wieder neues Lebensmaterial in sich verarbeitet. In diesem ganzen Spiel der Kräfte hat der Ich-Begriff überhaupt keinen Fuß- und Ruhepunkt mehr.

Die zweite Folgerung, die sich aus diesem Gedanken ergibt, ist die Frage: Woher stammt denn nun aber die vorige Daseinsform? Die Antwort darauf lautet: Sie stammt aus der ihr vorhergehenden Daseinsform und so weiter rückwärts in eine Reihe, von der ein Anfang nicht erkennbar ist und vom Buddha auch als nicht erkennbar gelehrt wird - eine Reihe, die sich kurz in den Satz fassen lässt: Wo etwas da ist, da kann es nie nicht da gewesen sein. Der Buddha selber sagt: "Ein Anfang der Nichtwissen-behinderten Wesen ist nicht zu erkennen."

Man wirft hier sofort ein: "Ist man dann nicht auch hier beim Glauben angelangt? Denn gerade die Entstehung der Welt und des Lebens in ihr ist doch das Wichtigste am ganzen Lebensrätsel. Schiebt man dieses Problem als ungelöst in die Anfangslosigkeit zurück, so bleibt ja das Beste unaufgeklärt. An der Anfangslosigkeit hängt das Geheimnis des Lebens. Lässt man dieses Rätsel ungelöst, so verfällt man entweder dem Indifferentismus der Wissenschaft oder dem Glaubenszwang der Religion. Denn für den Menschengeist ist die Tatsache, dass ein Anfang der Welt, ein Beginn des Lebens nicht zu finden ist, gleichbedeutend mit der Notwendigkeit, eine höhere Macht anzunehmen, die man nie begreifen kann, an die man daher glauben muss. Muss man aber schon an irgend ein ewiges Prinzip glauben, so ist es praktisch gleichbedeutend, ob man das selbe Seele nennt oder Wille. Durch die Anfangslosigkeit ihres Daseins werden beide zu Glaubensgegenständen."

Die Antwort auf diesen Einwurf lautet: Der Wille, wie der Buddha ihn zeigt und lehrt, entspricht durchaus nicht der Seele, wie die Glaubensreligionen sie lehren. Der Wille im Buddhismus ist nicht Kraft an sich, ist kein an sich Seiendes, kein Ewiges, an dem sich wie an einer Schnur die einzelnen Daseinsformen aufreihen, gleich den einzelnen Perlen einer Kette. Zu einem derartigen metaphysischen "Etwas" wird der Wille bei Schopenhauer, der ihn zum "Ding an sich" macht und zu einem Weltwillen umdenkt. Auf derartige Transsubstantiationen lässt sich der Buddhismus nicht ein. Ihm bleibt der Wille immer die einzelne Willensregung, dieses unmittelbare Selbsterlebnis, diese lebendige Kraft, die aus ihren eigenen Vorbedingungen immer wieder neu aufspringt. Sie ist also nicht ein an sich Seiendes gleich der Seele in den Glaubensreligionen, sondern sie ist etwas, das, um überhaupt da zu sein, erst immer wieder neu werden muss.

Als solch ein immer wieder Neu-Werdendes wird sie in der Inschau völlig zugänglich, völlig begreifbar, ja der einzig völlig begreifbare Wert des ganzen Weltgeschehens. Nicht Anfangslosigkeit, sondern Kraft ist das eigentliche Geheimnis des Lebens. Anfangslosigkeit ist nichts als ein anderer Ausdruck für Kraft auf die Zeit projiziert; mathematisch gesprochen: Anfangslosigkeit ist kein Grundwert, sondern nur ein funktioneller Wert. Das gedankliche Verhältnis zu ihr wird sich je nach dem gedanklichen Verhältnis zur Kraft gestalten. Anfangslosigkeit an sich ist daher freilich nie zu begreifen. Denn Begreifen ist auch immer ein gedankliches Umgreifen. Anfangslosigkeit lässt sich nicht umgreifen, ebenso wenig wie die Dunkelheit sich durch das Licht beleuchten lässt. Wird sie beleuchtet, so ist sie keine Dunkelheit mehr. Ebenso: Wird Anfangslosigkeit begriffen, so ist sie keine Anfangslosigkeit mehr. Aber durch diese Eigenschaft, dass sie räumlich nicht umgriffen und gedanklich nicht begriffen werden kann, wird sie durchaus noch nicht zur Glaubenssache. Auch der Schatten kann räumlich nicht umgriffen und gedanklich nicht begriffen werden: nicht weil er eine Unbegreifbarkeit ist, sondern weil an ihm als reinem Ausfallwert, überhaupt nichts zu begreifen ist. Ob diese Unbegreiflichkeit zur Glaubenssache werden muss, hängt ganz davon ab, ob im "Jetzt" eine Unbegreifbarkeit zurückbleibt oder nicht. Bleibt im "Jetzt" irgend etwas Unbegriffenes zurück, das die Möglichkeit eines metaphysischen Kernes offen lässt, so wird diese Möglichkeit aus der Tatsache der Anfangslosigkeit einen Glaubenszwang machen, da hier Anfangslosigkeit sozusagen die geistige Fußspur des Göttlichen wird. Diese Möglichkeit fällt fort, da wo Kraft begriffen wird, womit dann gleichzeitig begriffen wird, dass ein metaphysischer Wesenskern sich im Ich nicht mehr bergen kann. Die Wurzeln, die sich ins Transzendente erstrecken könnten, werden abgegraben und jedes Moment gibt den ganzen Sinn und Wert des Lebens. Anfangslosigkeit, dieses Problem der Probleme, verliert damit seine gedanklichen Schrecken und hört auf, den Glaubenszwang auszuüben. Denn wenn diese Daseinsform restlos begreifbar ist, dann muss es die vorige auch gewesen sein, jede andere vorige auch, und Anfangslosigkeit behält keine inhaltliche, sondern nur eine formale Bedeutung. Sie wird zu einem bloß gedanklichen Ausfallwert, der in Bezug auf die Zeit das ist, was der Schatten in Bezug auf den Raum ist - ein Wert, der freilich nicht zu begreifen ist, an dem aber auch nichts zu begreifen ist. Anders ausgedrückt: Die Unbegreifbarkeit der Anfangslosigkeit beruht nicht auf ihrer metaphysischen Natur, sondern lediglich auf ihrer Inhaltlosigkeit. Und sie wird inhaltlos dadurch, dass das Ich als inhaltlos, als frei von einem eigenen Prinzip, als frei von Seele, als Anatta begriffen wird.

Damit ergibt sich ein starker Unterschied zwischen Anfangslosigkeit im buddhistischen und im christlichen Sinne. Im buddhistischen Sinne bleibt sie lediglich das, von dem ein Anfang nicht zu erkennen ist; von dem ein Anfang aber auch nicht erkannt zu werden braucht, weil die ganze Frage inhaltlos geworden ist. Im christlichen Sinne ist Anfangslosigkeit ein Absolutes, Ewiges, das Korrelat der Seele und des Gottes und als solche notwendig Glaubenssache. Der Buddha selber weist alle Fragen nach der ersten Entstehung der Welt und Leben ab, nicht deshalb, weil ihm das ein Geheimnis ist, sondern deshalb, weil er als geistig Erwachsener die gedankliche Inhaltlosigkeit der Frage einsieht. Wie Leben jetzt entsteht, indem es in den Willensregungen immer wieder sich selber erlebt, so ist es von jeher entstanden. Nach einer anderen Art der Lebensentstehung zu forschen, ist kindisch und beweist mangelndes Verständnis für die Wirklichkeit.

Wie sich aus dieser Anfangslosigkeit im buddhistischen Sinne die Möglichkeit des Aufhörens ergibt, während mit der Anfangslosigkeit im christlichen Sinne auch notwendig Ewigkeit mitgegeben ist, darauf werden wir später zurück kommen.

Dieser kammischen Abstammungslehre gegenüber erhebt sich nun der natürliche Einwurf: Wie sind mit ihr die unbestreitbaren Tatsachen der Physiologie in Einklang zu bringen? Denn die Tatsache, dass wir ein jeder von seinen Eltern abstammen, ist doch nun einmal unbestreitbar.

Die Antwort hierauf lautet: In buddhistischer Auffassung bleiben die Eltern lediglich Vermittler beim Geburtsvorgang. Sie liefern in dem, was sie an Lebensmaterial für das neue Lebewesen geben, sozusagen nur den Stoff zu dessen neuem Lebenskleid. Das was sie liefern, ist nicht das neue Leben selber: es sind nur aus ihrem Körper abgestoßene Zellen, die mit ganz bestimmten biologischen Entwicklungsmöglichkeiten ausgestattet sind. Damit aber aus ihnen beiden eine neue, lebendige Einheit wird; damit sie sich einem neuen Lebewesen verschweißen, dazu gehört der Hinzutritt einer Kraft. Diese Kraft stammt aus dem Zerfall der eigenen vorigen Daseinsform. Sie fasst unmittelbar auf dem neuen Lebensmaterial, in dem neuen Mutterschoß, wohin sie ihrer Eigenart nach abgestimmt ist und entwickelt die biologischen Möglichkeiten, die natürlichen Anlagen dieses neuen Lebensmaterials, was sich dann physiologisch unter dem Bilde des allmählichen Wachsens im embryonalen Zustand, des Geborenwerdens, des Weiterwachsens, des Alterns darstellt, bis sich im Zerfall das gleiche Spiel des sich neu Einkleidens wiederholt. Also noch einmal: Das mütterliche und das väterliche Zeugungsmaterial allein schaffen noch kein neues Lebewesen. Das sind nur Lebensmöglichkeiten, vorgebildet zwar bis ins Einzelnste, aber unentwickelt. Das große Dritte, die Leben lebende Kraft, wie es in den Texten heißt: das Gandhabba muss dazu treten, sollen sich diese biologischen Möglichkeiten verwirklichen, reifen. Kraft muss anstecken, muss einschlagen gleich dem belebenden Blitz, soll es zur neuen Lebensflamme kommen.

Auch diese Vorstellung ist für unser Denken so fremdartig, dass Zeit und Unvoreingenommenheit dazu gehört, um sich an sie zu gewöhnen. Die Eltern bleiben bei dieser neuen Einsicht nicht mehr Erzeuger im vulgären Sinne, sondern sie werden in die Rolle der bloßen Geburtshelfer zurück gedrängt. Damit scheint ein gut Teil idealer Werte verloren zu gehen; aber sie werden aufgewogen durch neuen Wirklichkeitsgehalt.

Man fragt weiter: Wie geht denn nun diese Kraft über, nenn sie nicht Kraft an sich hat, sondern die im einzelnen immer wieder neu aufspringende Willensregung? Als solche ist sie doch notwendig an den Organismus gebunden und kann nicht als freie Kraft übergehen.

Die Antwort lautet: Freie Kraft gibt es in der Wirklichkeit überhaupt nicht. Wirkliche Kraft ist nur möglich in Verbindung mit, in Abhängigkeit von dem Lebensmaterial, an dem sie wirkt, weil sie ja nichts ist als der eigenartige Spannungszustand dieses Materials. Diese wirkliche Kraft, wie der Buddha sie als Willensregung begriffen hat, geht überhaupt nicht über; sie ist ja gar nicht "Etwas", das übergehen könnte, sondern sie fasst unmittelbar an ihrer neuen Wirkungsstätte, im neuen Mutterschoß. Es brennt ununterbrechungslos weiter, nur der Brennstoff hat gewechselt; nur bestimmte Spannungen haben sich verschoben.

Dass dieser Gedanke uns so fremdartig, ja so widernatürlich erscheint, daran ist nicht er selber schuld, sondern die Verbildung, die unser Denken in der mechanischen Auffassung des Weltgeschehens erlitten hat. Die Wissenschaft, die nur mit Massenwerten, nie mit wirklichen Kräften operiert, anerkennt nur Nahwirkungen, d.h. Wirkungen auf Grund direkter Berührung. Der Weg zwischen Ursache und Wirkung muss in Zeit und Raum verfolgbar sein, soll sie ihn anerkennen. Unmittelbare Wirkungen, die ohne Rücksicht auf Zeit und Raum wirken, sind für sie Fernwirkungen, die sie als unwissenschaftlich und daher mystisch abweist. Dabei bedenkt sie aber nicht, dass alle wirklichen Kräfte unmittelbar wirken, sozusagen gegen Zeit und Raum. Wenn bei irgend jemand Liebe zu oder Mitleid mit einem anderen Wesen aufspringt, so geht dabei auch in Zeit und Raum nicht "Etwas" über: Es ist ein unmittelbares Wirken von Person zu Person, das einem veränderten Spannungszustand entspricht. Die Wissenschaft kennt nur ihre eigene Welt der Massen. Die Welt der wirklichen Kräfte kennt sie nicht und will sie auch gar kennen. Dabei will sie uns aber weismachen, dass es keine anderen Gesetze gibt als die, welche sie selber dieser Welt der Massen abgelauscht hat. Wer im Begreifen der Wirklichkeit fortschreiten will, der braucht die Ergebnisse der Wissenschaft nicht abzuweisen, aber er muss verstehen, sie auf das Gebiet einzuschränken, auf das allein sie anwendbar sind.

Man fragt weiter: Wer gibt der Kraft ihre Richtungslinie? Wer lehrt sie, die neue Wirkungsstätte zu finden? Die Antwort lautet: Wer gibt dem Blitz, wenn er einschlägt seine Richtungslinie? Er richtet sich selber. Ebenso ist es mit der Ich-Kraft, wenn sie im neuen Mutterschoß fasst: Sie richtet sich selber. Sie fasst auf dem Lebensmaterial, auf welches sie ihrer eigenen jeweiligen Beschaffenheit nach abgestimmt ist. Beide, das neue Lebensmaterial mit seinen biologischen Möglichkeiten, mit seinen bis ins einzelne vorgebildeten Anlagen und ebenso die Kraft der zerfallenen Daseinsform stellen einzigartige Werte dar, die sich gegenseitig aufeinander abstimmen. Nur wenn Kraft als eigenartiger Spannungszustand begriffen ist, lässt sich begreifen, wie die zahllosen Möglichkeiten hier einander gerecht werden können. Denn bei den Unterschieden in Spannungen gibt es ebenso zahllose Möglichkeiten wie bei den Unterschieden in Zahlen. Auch die aus den mütterlich-väterlichen Körpern abgestoßenen Zellen stellen in ihren biologischen Eigenheiten, in ihren Anlagen bestimmte Spannungszustände dar, die, modern gesprochen, als Rezipienten, als Aufnahmeorgan für die Ich-Kraft der zerfallenden Daseinsform dienen. Die Ich-Kraft wird nicht zu ihrem neuen Wirkungskreis hin gerichtet, sondern sie richtet sich selber.

Aus dem tiefen Doppelsinn dieses Ausdrucks "Sie richtet sich selber" taucht ein Gedanke von erhabener Größe auf. Der miterlebende Geist beginnt die immanente Gesetzlichkeit des Weltgeschehens zu ahnen; beginnt zu ahnen, dass das Weltgeschehen nicht richterlos ist, aber auch seinen Richter nicht in einem Jenseits hat, sondern dass es sich in sich selber richtet.

Mit diesem Gedanken stehen wir bereits mitten in der Moral des Buddhismus. Ehe wir auf diese selber eingehen, beantworten wir aber erst noch einen weiteren Einwurf. Dieser Einwurf lautet: Wer gibt mir den Beweis dafür, dass das alles wirklich so ist und dass es sich nicht um bloße Phantasien handelt?

Dieser Einwurf ist ein Scheineinwurf. Er hat ebenso viel Wert wie der Einwurf eines Menschen, der da sagt: "Wer gibt mir den Beweis dafür, dass der Honig süß ist? dass das Brot nährt?" Hier gibt es nur einen einzigen Beweis: Er muss es eben selber schmecken. Er muss selber essen. Er muss es selber erleben. Dann wird er merken, dass er hier etwas vor sich hat, was nicht bewiesen zu werden braucht gleich einer wissenschaftlichen Behauptung, sondern was sich durch sich selber beweist. Tut er das, entschließt er sich selber zu schmecken, so wird er auch erleben, dass das, was ihm jetzt noch völlig fremdartig erscheint, für sein Denken zu einer natürlichen Notwendigkeit wird. Wo liegt der Beweis dafür dass ich nicht träume, sondern wache? Er liegt nicht in der Außenwelt, sondern in sich selber. Wachen ist eben so beschaffen, dass es sich durch sich selber beweist und nicht als solches bewiesen zu werden braucht. Das ist eben die Eigenschaft der intuitiven Erkenntnis im Gegensatz zur induktiven. Daher der immer wiederkehrende Vergleich in den Texten: "Wie wenn man Licht in einen dunklen Raum bringt. - Wer Augen hat, wird die Dinge sehen." Er sieht sie unmittelbar. Ein Beweis für dieses Sehen braucht ihm nicht erbracht zu werden.

Aber der Außenstehende, der nicht unmittelbar sieht, fordert den Beweis. Und dieser Beweis lässt sich dann nur in indirekter Form geben: Man nehme die Buddhalehre als Arbeitshypothese und sehe zu, wie sich nun bei ihrer Anwendung auf das Weltgeschehen die so genannten Welträtsel gestalten. Das kann ein jeder tun; einerlei ob er den Buddhismus miterlebt oder nicht. Dazu gehört nur geistige Unvoreingenommenheit. Das ist daher auch ein jeder verpflichtet zu tun, dem nicht an der Konservierung von Dogmen, sondern an der Wahrheit gelegen ist. Tut er es aber, so wird er finden, dass sich mit der Kamma-Lehre des Buddha wie mit einem Zauberschlag vor dem überraschten Geist eine neue Weltordnung auftut.

Das große Problem des Lebens bleiben stets die Tatsachen von Geburt und Tod. Sie sind die einzig sicheren Tatsachen des Lebens, und so ungeheuer viel wir über das Leben wissen, über das Verhältnis dieser beiden zum Leben wissen wir nichts; anders ausgedrückt, unser Wissen reicht nicht aus, um Leben über seinen Einsatzpunkt und über seinen Endpunkt hinaus zu verlängern. Die Fragen: Woher werden wir geboren? Wohin sterben wir? sind von jeher die Preisfragen menschlichen Denkens und menschlichen Grübelns gewesen. Die Antwort, die hier die Wissenschaft gibt, befriedigt das Gefühl nicht, und die Antwort, die hier der Glauben gibt, befriedigt den Verstand nicht. Beide Forderungen, die an das Gefühl wie an den Verstand, erfüllt der Buddha, indem er die beiden scheinbar getrennten Wunder von Geburt und Tod wie durch einen genialen Coup in einem löst: Woher werde ich geboren? Aus meinem eigenen Sterben. Wohin sterbe ich? In mein eigenes Geborenwerden. Die Rätsel von Geburt und Tod lösen sich in jener einzig möglichen Art: dass eines sich durch das andere löst. Dem wissenschaftlichen Indifferentismus wird ebenso wie der Notwendigkeit zum Glauben der Boden entzogen. Es ragen aus der Wirklichkeit keine freien Stümpfe mehr in ein Transzendentes hinein. Die beiden Stümpfe "Geburt und Tod", die bisher jedem für sich als eine Art von Gleitbahn ins Transzendente dienten, schließen sich in dieser neuen Einsicht in sich selber, und damit ergibt sich ein Welthaushalt, der den Beweis für seine Wahrheit in seiner Völligkeit trägt. Der Glaube erglaubt sich seinen Welthaushalt, indem er alles aus dem Schoß eines Transzendenten hervor gehen, in den Schoß eines Transzendenten zurück kehren lässt. Die Wissenschaft erdenkt sich ihren Welthaushalt in dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft, wobei Kraft zu einem leeren Verhältniswert wird. Der Buddhist erlebt sich seinen Welthaushalt und er gibt dem Außenstehenden den Beweis für die Richtigkeit seines Erlebens darin, dass er sagt: "Wendet diesen Welthaushalt auf die Tatsachen an, versucht ihn und ihr werdet finden, dass er stimmt." Das Widerspenstige fügt sich, das Daseinsproblem löst sich in sich selber auf und der denkende Geist merkt, dass er in die Wirklichkeit eingeschnellt ist.


Zweiter Teil

Im ersten Teil dieses Vortrags hatte ich von der Buddhalehre das dargestellt, was man kurz ihre Weltanschauung nennen könnte. Wir wollen nun auf die Moral und die Religion des Buddhismus übergehen. Vorher aber möchte ich Ihnen den Inhalt des ersten Teiles in aller Kürze noch einmal geben.

Wollte ich alles das, was ich Ihnen das vorige Mal vortrug, in einem Satz zusammenfassen, so würde ich sagen, es bedeutete: Leben ist ein individueller Wert.

Um den ungeheuren Inhalt dieser Worte bemessen zu können, müssen Sie sich vergegenwärtigen, dass in allen anderen Lebenslehren, mögen sie religiöser oder wissenschaftlicher Art sein, Leben kein individueller, persönlicher, sondern ein genereller, allgemeiner Wert ist. In den religiösen Lebenslehren sind die Einzelleben nichts als Teilerscheinungen einer göttlichen Allkraft, gleichsam sprühende Funken eines einzigen, großen Gottfeuers. In den wissenschaftlichen Lebenslehren sind die Einzelleben nichts als Teilerscheinungen einer einigen, mit allen Lebensmöglichkeiten ausgestatteten Materie. Kurz: Bei ihnen allen ist Leben ein genereller Wert und ihnen allen steht der Buddhismus mit seiner Einsicht und Lehre vom Leben als einem individuellen Wert gegenüber.

Diese Lehre ergibt sich aus buddhistischer Kraftlehre.

Kraft ist am Leben das Wirkliche, Ausschlaggebende. Jede wirkliche Lebenslehre muss Kraftlehre sein. Die Kraft, auf Grund deren ein Lebewesen da ist, ist der eigene Wille, der Lebensdurst.

Mit dieser Einsicht begreift das Lebewesen sich selber. Es schneidet sich selber die Wurzeln ab, die ins Transzendente führen könnten. Leben wird - nicht in die Sinnlichkeit, nach wissenschaftlicher Auffassung, sondern - in die Wirklichkeit zurück verlagert, und es ergibt sich die eigenartigste aller Abstammungslehren, laut welcher das Lebewesen seiner Lebenskraft nach nicht von Gott, nicht von den Eltern, sondern von sich selber abstammt. Wobei man sich freilich immer klar bleiben muss, dass dieses "sich selber" keine Identität einschließt, so wenig wie es bei einer Flamme eine Identität einschließt. Auch die Flamme, wenn sie Bewusstsein hätte, würde sagen "Ich brenne", aber dieses "Ich" hätte keine bindende, sondern nur konventionelle Bedeutung. In Wahrheit ist da kein mit sich selber identisches Etwas; sondern bei der Flamme wie beim Lebewesen sind da nur Ernährungseinheiten, von denen man korrekter Weise im ersteren Falle nur sagen dürfte: Es brennt, im letzteren: Es lebt.

Damit stehen wir vor der Frage: Wie kann eine derartige Auffassung des Lebensvorganges überhaupt noch eine Möglichkeit für Moral lassen? Womit wir dann beim zweiten Teil unseres Vortrages angelangt sind:

Ich habe Wollen nicht als Funktion, sondern ich bin Wollen selber; womit wohlgemerkt nicht etwa Ich und Wollen identifiziert werden, sondern womit nichts gesagt wird als: Es geht da ein individueller Vorgang unter Willensregungen, auf Grund von Willensregungen vor sich.

Ausdruck des Wollens ist das Wirken. Wirken stellt sich dar als Wirken in Gedanken, Worten, Taten. Dieses Wirken in seiner dreifachen Form nennt man zusammenfassend den Charakter. Hier habe ich nicht meinen Charakter als bloße Funktion einer Seele, sondern ich bin mein Charakter selber, wobei Charakter kein fest stehender Wert bleibt, sondern zu einer beweglichen Größe wird, wechselnd mit dem jeweiligen Wirken. Lebenskraft, in ihrer Wirklichkeit, d.h. in ihrem Wirken betrachtet, wird ein moralischer Wert und der dürre Begriff bekommt die lebendigste Füllung. Mit dem selben Recht, mit dem oben gesagt wurde: "Ich stamme von mir selber ab" lässt sich sagen: "Ich stamme von meinem Charakter ab." Der Charakter der vorigen Daseinsform ist für die jetzige bestimmend gewesen und der Charakter der jetzigen Daseinsform wird für die nächste bestimmend sein.

Meinem Charakter, d.h. meiner sittlichen Güte oder Minderwertigkeit entsprechend, wird meine nächste Daseinsform sein. Meinem Charakter entsprechend wird das neue Lebensmaterial, der neue Mutterschoß beschaffen sein, auf den die Ich-Kraft abgestimmt ist. Das ist die Wiedergeburt nach dem Wirken, die der Buddha in seiner Kamma-Lehre gibt. Mit ihr gibt er gleichzeitig jene naturgemäße, naturnotwendige Moral, über welche eine denkende Menschheit nie hinaus kommen wird, weil es eine Moral ist, die den Anreiz zu ihrer Verwirklichung in sich selber trägt. Hier bedarf es, um die Weltgerechtigkeit zu wahren, keiner transzendenten Macht in Form eines Gottes. Hier bedarf es keiner diesseitigen Macht in Form einer weltlichen Obrigkeit. Hier bedarf es keines Richtens und Gerichtetwerdens. Hier richtet alles sich selber. Das Wort, das die alten Griechen sich für die Welt erdacht hatten: "Kosmos", d.h. das Schmuckvolle, Wohlgeordnete, bekommt hier seinen wirklichen Sinn. Denn hier wird das Weltgeschehen sich zu einem biologisch und moralisch in sich selber Ordnenden. Die Lebewesen, die ihren Charakter, ihr Wirken nicht als Eigenschaft eines realen Ich haben, sondern die ihr Wirken selber sind und durchaus weiter nichts als ihr Wirken, diese Lebewesen lohnen und strafen sich selber, indem sie sich im Sterbemoment selber richten, sich dahin richten, wohin sie ihrem Wesen nach abgestimmt sind. Guter Charakter, gutes Wirken richtet sich auf gutes Lebensmaterial, fasst in günstigem Mutterschoß. Schlechter Charakter, schlechtes Wirken richtet sich auf schlechtes Lebensmaterial, fasst in ungünstigem Mutterschoß.

Aus dieser Einsicht ergibt sich eine Moral, die ich die Moral der Erwachsenen nennen möchte. Die Wissenschaft ist ihrem Wesen nach amoralisch. Ihre Vorgänge schließen keine Verantwortlichkeit ein. Der Gläubige stillt seine moralischen Bedürfnisse aus dem Transzendenten. Der Buddhist stillt seine moralischen Bedürfnisse aus der Wirklichkeit heraus. An Stelle der moralischen Unverantwortlichkeit der Wissenschaft, der Gottverantwortlichkeit des Glaubens herrscht bei ihm Selbstverantwortlichkeit, wie es dem Erwachsenen zukommt. Hier gibt es nichts umsonst. Hier wird nichts erlassen, nichts gewährt. Hier gibt es keine göttlichen Gnadenakte, keine Vergebung der Sünden. Hier fasst sich alles zusammen in dem einen unerhört nüchternen, unerhört strengen aber unerhört wirklichen Gedanken: "Ist dieses, wird jenes; ist dieses nicht, wird jenes nicht." Unterlass die Tat, so wird die Folge ausbleiben. Ein anderes Mittel, den Folgen seiner Tat zu entgehen, gibt es nicht. Den wenn ich mein Wirken nicht als Funktion habe, sondern dieses Wirken selber bin, dann bin ich auch die Folge dieses Wirkens, indem ich selber zu dieser Folge werde, zu ihr mich entwickle, aufblühe. Trifft mein Wirken auch niemand anders in der Welt - mich selber trifft es immer. Von der Unmöglichkeit, sich vor Gott und seiner strafenden Hand zu verbergen, spricht der Psalmist. Von der Unmöglichkeit, sich und den Folgen seines eigenen Wirkens zu entfliehen, spricht ein buddhistischer Psalmist. Ein Vers im Dhammapada (Wahrheitspfad) lautet:

"Nicht hoch in Lüften, nicht in Meerestiefen,
Nicht in der Berge Höhlen Zuflucht suchend,
Nicht irgend einen Ort gibt es im Weltall,
Wo man sich lösen könnt' von eig'nem bösen Wirken."

Beide Dichter bedienen sich in fast befremdender Weise der gleichen Worte und beweisen damit, dass es bei unserem Tun nicht so sehr auf die Tatsachen als auf die Motive ankommt. "Sei gut!" mahnen sie beide. Aber beim alttestamentlichen Sänger droht der vom Jenseits her richtende Gott. Beim buddhistischen Sänger droht das sich in und durch sich selber richtende eigene Wirken.

Es wurde bei der Weltanschauung des Buddhismus gesagt, dass hier jeder zu einer Welt für sich wird, die mit dem Ganzen nicht wesenhaft, sondern nur durch den Vorgang der Ernährung zusammen hängt. Wir essen alle aus einer Schüssel; Esser ist jeder für sich selber. Damit scheint die Gefahr einer Auffassung gegeben, die jeden Einzelnen berechtigt, in einem nur sich selber begreifenden Egoismus sich selber auszuleben. Diese Gefahr wird gebannt, sobald man in die Tiefe des Gedankens dringt. In buddhistischer Einsicht gehört der Einzelne freilich nicht mehr der Welt an. Die moderne altruistische Tendenz, die da lehrt, sich selber über dem Ganzen zu vergessen, findet hier keine Möglichkeit. Der Einzelne wird aber auch nicht umgekehrt zu einer nur sich in sich selber auslebenden Persönlichkeit. Er gehört weder der Welt, noch sich selber an. Das "Ich" und das "Mein", diese Triebfedern aller konventionellen Moral, haben überhaupt aufgehört. Es gibt hier nur die unerbittliche Grund-Folge-Moral des vom Ich-Begriff gereinigten Wirkens. Ist dieses, wird jenes; ist dieses nicht, wird jenes nicht. Eine Brechung oder nur Beugung dieser naturgesetzlichen, naturnotwendigen Moral einem "Ich" zuliebe, die gibt es hier nicht. Das ist ja eben der Wahn, der aus dem menschlichen Nichtwissen entspringt, dass man derartige Möglichkeiten annimmt. Wir werden nicht gerichtet von einer transzendenten Macht. Wäre das der Fall, so gäbe es eine Möglichkeit, die Folgen des Wirkens ungeschehen zu machen, das heißt: Sünden zu vergeben. Wir richten uns selber dadurch, dass im Sterbemoment die Ichkraft auf dem neuen Lebensmaterial Fuß fasst, auf welches sie ihrer Beschaffenheit nach, d.h. ihrem moralischen Wert nach abgestimmt ist. Hochwertige Ich-Kraft richtet sich auf hochwertiges Lebensmaterial und geht damit einer günstigen Wiedergeburt entgegen. Minderwertige Ich-Kraft richtet sich auf minderwertiges Lebensmaterial und geht damit ungünstiger Wiedergeburt entgegen. Erst wo man dieses begriffen hat, da ist man in jener Tiefe angelangt, in welcher die Gesetze der Biologie auch zu Gesetzen der Moral werden. Die Lebenslehre des Buddha beweist sich als wirklich dadurch, dass sie das Weltgeschehen selber versittlicht und dadurch eine transzendente Kraft, die über die Befolgung des Sittengesetzes wachen müsste, überflüssig macht. Wie der Buddhismus den Einzelnen weltanschaulich auf sich selber stellt, so stellt er ihn auch moralisch auf sich selber, und daher nannte ich oben die buddhistische Moral die Moral der Erwachsenen. Das Kind hofft, dass ihm dieses oder jenes geschenkt oder erlassen werden könnte. Der Erwachsene weiß, dass in der Wirklichkeit nichts umsonst ist, dass alles seinen Preis hat, dass alles seine naturnotwendige Folge hat, die keine Macht der Welt ungeschehen machen kann. Ein Vers im Dhammapada lautet:

"Durch das Selbst wird die Schuld getan,
Durch das Selbst beschmutzt man sich,
Durch das Selbst bleibt die Schuld ungetan,
Durch das Selbst reinigt man sich."

Das ist nüchtern, aber klar, kalt, aber wirklich. Moral ist zu einem Wert geworden, der ganz innerhalb des Einzelnen zu liegen kommt.

Nun kommt der moderne Mensch mit der Weisheit seiner Idealismen und sagt: "Beide Arten von Moral, die christliche wie die buddhistische, sind ihrem Wesen nach egoistisch. Denn ob der Mensch gut ist aus Gottesfurcht oder aus Selbstfurcht, das ist beides Egoismus. Die Höhe der Moral wird erst dann erreicht, wenn der Mensch gut ist einzig und allein um des Guten willen."

Das ist ein schöner Spruch, aber seine Schönheit ist die Schönheit eines Gemäldes. Es fehlt die Wirklichkeit. Damit er Wirklichkeit bekommt, müsste man wissen, was denn nun das Gute ist. Ein Gutes als Positivum, als Wert an sich gibt es nicht, so wenig wie es Wahrheit als Positivum, als Wert an sich gibt. Entweder das Gute ist Gott und seine Gebote; dann fällt diese ästhetische Moral mit der Moral des Glaubens zusammen, oder das Gute besteht lediglich im Lassen alles Schlechten; dann fällt die ästhetische Moral mit der Moral des Buddhismus zusammen. Letzten Endes läuft alle Moral auf ein Lassen des Schlechten hinaus, d.h. auf Akte des Entsagens, der Selbstlosigkeit. Und die Wirklichkeit der buddhistischen Moral beruht darauf, dass sie die Motive für diese Akte der Selbstlosigkeit weder aus Idealismen, noch aus einem Glauben, sondern aus dem nüchternen Begreifen der Wirklichkeit her leitet.

Dem entsprechend sind die buddhistischen Gebote keine Gebote bzw. Verbote im christlichen Sinne, wobei immer eine gebietende bzw. verbietende Macht vorausgesetzt wird, sondern sie sind nichts als Selbstgebote bzw. Selbstverbote und bestehen in dem Entschluss, auf Grund tieferer Einsicht in das Wesen des Lebens Dinge zu unterlassen, zu welchen den gewöhnlichen, gedanklich nicht durchgebildeten Menschen die Selbstsucht treibt. Das Pāliwort für diese Gebote ist Sīla, was nichts weiter bedeutet als moralische Übung. Es gibt, zum mindesten für den Laien, fünf Sīla. Sie lauten: 1. Der Entschluss, kein lebendes Wesen des Lebens zu berauben. 2. Der Entschluss, Nichtgegebenes nicht zu nehmen. 3. Der Entschluss, Unkeuschheit zu meiden. 4. Der Entschluss, keine falsche Rede zu führen. 5. Der Entschluss, keine berauschenden Getränke zu trinken.

Wir sehen hier ab von einem weiteren Vergleich zwischen christlicher und buddhistischer Moral und gehen zum dritten und letzten Teil buddhistischer Lebenslehre über: zu seiner Religion.

Um hier dem Buddhismus gerecht zu werden, um hier nicht von vornherein abgestoßen zu werden, muss man sich vorher klar machen, was denn eigentlich Religion ist. Unsere vorläufige Antwort darauf lautet: Religion im eigentlichen Sinn gefasst ist nichts als das Bedürfnis des Menschen, über dieses Leben hinaus zu sehen. Soll Weltanschauung auf die Frage antworten: Was bin ich?, soll Moral auf die Frage antworten: Wie muss ich mich verhalten?, so soll Religion auf die Frage antworten: Wohin weist dieses Leben?

Es ist einer der schwersten Denkfehler des Westens, dass er Religion und Gottglaube identifiziert und soweit wir wissen, auch von jeher identifiziert hat. Der Osten unserer Erdkugel zeigt, dass Religion und Gottglaube durchaus nicht identisch sind. Konfutsianismus und Buddhismus sind gottfreie Religionen. Der Osten beweist dadurch, dass er sie geschaffen hat, seine größere religiöse Beweglichkeit und seinen höheren Kulturgehalt. Man muss begreifen lernen, dass der Gottglaube nur eine der Formen ist, in welchen sich das religiöse Bedürfnis des Menschen stillt. Über die Berechtigung dieser Form zu urteilen, ist hier nicht der Platz. Tatsache ist, dass die Glaubensreligionen das religiöse Bedürfnis des bei weitem größten Teiles der Menschheit stillen und niemand wird ihnen die Rolle abstreiten wollen, die sie im Kulturleben der Menschheit spielen oder besser gespielt haben. Aber die Religion des Menschen wird der Tiefe und Wirklichkeit seiner Einsicht entsprechen. Religion muss Funktion des Denkens werden, soll sie wirklich sein, ebenso wie Moral Funktion des Denkens werden muss, wenn sie wirklich sein soll. Alle Glaubensreligionen gehen ausnahmslos von der Voraussetzung eines wahren Ich, einer Ich-Wesenheit aus. Sie sind sozusagen die Projektion dieses Ich-Glaubens ins Transzendente hinein. Das Verhältnis des Menschen zur Religion ändert sich von Grund aus, sobald sich seine Stellung gegenüber dem Ich-Begriff geändert hat.

Der Glaube an das Ich als Wesenheit ist der eigentliche und ursprüngliche Glaube des Menschen; was der Buddha das anfanglose Nichtwissen nennt. Aus diesem Glauben stammt der Glaube an das Leben, d.h. an Leben als etwas, das seinen Wert und seine Notwendigkeit in sich selber trägt; womit dann die Glaubensreligion als gedankliches Korrelat mit gegeben ist. Schwindet das Nichtwissen über das Ich, so schwindet der Glaube an das Leben als Wert an sich, und damit ändert sich völlig das Verhältnis zur Religion. Dieses Verhältnis wechselt mit dem Stand der Einsicht, wie der Schatten wechselt mit dem Stand der Sonne. Ein Denken, das sich vom Ich-Begriff frei gemacht hat, wird seine religiösen Bedürfnisse aus anderen Quellen stillen, als ein Denken, das noch im Glauben an die Ich-Wesenheit befangen ist. Es soll damit keine Kritik beider Standpunkte gegeben werden. Die Glaubensreligionen entsprechen eben jenem Stand des Erkennens, der im Ich eine Wesenheit, ein wahres Selbst, ein Atta sieht, und sie werden bei diesem Stand des Erkennens für die Kultur der Menschheit unter Umständen gute, ja unersetzliche Dienste tun. Steigt der Stand des Erkennens, kommt der Glaube an die Ich-Wesenheit ins Wanken, ward aus dem atta ein anatta, so werden sich auch die religiösen Bedürfnisse ändern und Religion wird eine Form annehmen müssen, wie sie diesem gehobenen Stand des Erkennens entspricht.

Die geistige Entwicklung, wie sie sich in der Wissenschaft zeigt, arbeitet auf Vermeidung aller Sprünge und Kontinuitätstrennungen. Wo man früher Urzeugung und damit unerklärliche Wunder sah, da sieht man heute unmittelbare Zusammenhänge von Kräften. Die Glaubensreligionen, mögen sie monotheistisch oder pantheistisch sein, entsprechen einem Stand des Erkennens, welcher Trennungen in der gedanklichen Kontinuität des Weltgeschehens verlangt. Denn alles Transzendente ist das, was sein Name sagt: Ein Hinausschreiten über die Wirklichkeit, aus der Wirklichkeit hinaus, ein Bruch mit der Wirklichkeit. Darin liegt die Größe des Buddhismus, dass er derartige Sprünge unnötig macht - in der Weltanschauung und in der Moral ebenso wie in der Religion. Auch hier in der Religion bleibt er im strengen Zusammenhang mit der Wirklichkeit. Was seiner Religion an Gefühlswerten abgeht, das gewinnt sie an Wirklichkeitsgehalt und an Breite. Erst hier, von der gedanklichen Plattform der Buddha-Lehre aus, kann Religion das werden, was sie in Wahrheit ist: Das Bedürfnis nach einem Ziel des Lebens, rücksichtslos dagegen, wie dieses Ziel beschaffen sein mag. Denn die Rücksicht, die das menschliche Denken hierbei immer nimmt und genommen hat: die Rücksicht auf das Ich und seine Erhaltung, fällt in dieser Wirklichkeitslehre fort. Religion kann frei ausschwingen zu dem, was sie wirklich ist und hat nicht mehr nötig, aus egoistischen Gründen die Wirklichkeit zu vergewaltigen.

Wir treten damit auf die Nibbāna-Lehre des Buddhismus zu. Sie besagt kurz folgendes: Ein jedes Lebewesen hat den Lebenstrieb nicht als seine Funktion, sondern ist dieser Trieb selber. Hört dieser Trieb auf, so hört die Kraft auf, auf Grund deren Leben da ist. Hört die auf, so hört Leben selber auf; nicht nur in dieser Form hier, um in einer Dauerform im Jenseits wieder aufzutauchen, sondern Leben hört auf ehrlich, wirklich, als das was das Wort "Aufhören", "Ende" für das unvoreingenommene Denken überall bedeutet.

Man wirft ein: Wie kann Kraft, die von Anfangslosigkeit her da ist, die nie nicht da gewesen ist, aufhören? - Die Antwort lautet: Wäre Kraft hier das, was sie bei den Glaubensreligionen ist: Kraft an sich, Seele, so wäre es freilich nicht möglich, dass sie aufhört. Der Mensch wäre zum ewigen Leben verdammt, sei es im Himmel, sei es in der Hölle. Um eine solche Kraft, die geglaubt werden muss, handelt es sich aber nicht im Buddhismus. Wir wissen, dass Kraft hier nichts ist als ein eigenartiger Spannungszustand, den jeder Einzelne bei sich selber in seinen Änderungen als Willensregung erlebt. Wo Kraft so begriffen wird, da bedeutet Aufhören der Kraft nicht: dass "Etwas", das da ist, nun in nichts vergeht. Derartiges gibt es nicht in der Wirklichkeit. Sondern es bedeutet: dass Regungen, die bisher immer wieder frisch aufgesprungen waren, hinfort nicht mehr aufspringen, weil die Vorbedingungen, aus denen sie bisher aufgesprungen waren, sich so geändert haben, dass die Möglichkeit für dieses Neu-Aufspringen fortfällt. Der Wille wird nicht vernichtet, sondern die Möglichkeiten für seine Neu-Entstehung werden gehoben und zwar im Denken, eben dadurch, dass man den Ich-Begriff umdenkt, ihn in seiner wirklichen Natur begreift, wobei sich dann an ihm und an der ganzen Welt jene Umwandlung vollzieht, die es zur erfolgreichen Reibung, zum Sich-Entzünden gar nicht mehr kommen lässt. Wie bei einem feucht gewordenen Holz die Reibung keine Flamme mehr schafft, so schafft bei einem im rechten Denken Gesättigten die Reibung an der Außenwelt keine neue Willensregung mehr. In den Texten heißt ein Solcher: "sītibhuto", Kühlgewordener. Er schaut, aber er will nicht mehr. Und er will nicht mehr, nicht deshalb, weil er den Willen gewaltsam unterdrückt, sondern deshalb, weil sein Stand des Erkennens ihm das Wollen unmöglich macht. Solange der Ich-Begriff bestehen bleibt, hat das "Ich will nicht" immer den Sinn eines durch den eigenen Willen unterdrückten Willens, wobei dann auch Nichtwollen eine Form des Wollens bleibt. Erst wenn dieses "Ich will nicht" zum "Es will nicht" umgedacht ist, erhält es jene unmittelbare Bedeutung der Willensversiegung, der Unmöglichkeit des Wollens.

Nibbāna (Sanskrit: Nirvāṇa) in der ursprünglichen Buddha-Lehre bedeutet nichts, durchaus nichts als das Versiegen der Willensregungen. Nicht die vulgäre Nahrung, sondern die Willensregungen sind das Öl, das sich die Lebensflamme immer wieder selber zuführt und durch das sie sich selber unterhält. Geht volles Erkennen auf, gehen Willensregungen ein. Sie versiegen wie der Tropfen versiegt, der auf eine glühende Platte fällt. Nibbāna ist jener Endzustand der anfangslosen Lebensreihe, der sich ohne Willensregungen abspielt. Er gleicht der Flamme, die kein Öl mehr erhält und daher notwendig dem Erlöschen zugeht. Wo Wollen von Anbeginn her gebrannt hat, da brennt es nicht mehr. Es ist aufgehoben, nicht durch die Kraft eines artfremden Willens, der sich gegen sich selber kehrt, sondern durch die Kraft eigenen Denkens. In diesem Sinne heißt es im Dhammapada:

"Das Selbst ja ist des Selbstes Herr.
Wer anders sollte Herr denn sein!"

Man bleibe einen Atemzug lang bei diesem Gedanken stehen. Man lasse sich Zeit, ihn zu kosten, und man wird seine Schönheit und seine Würde empfinden, allerdings auch seine fast unersteigliche Höhe. Nibbāna ist kein mystisches Jenseits mit Himmelsseligkeiten. Es ist nichts als dieses nüchternste, wirklichste, aber gewaltigste aller Erlebnisse: die Willensversiegung auf Grund neuer Einsicht in die Wirklichkeit.

Dass mit dieser Willensversiegung auch die Daseinsversiegung, das Verlöschen, als notwendiges Korrelat mitgegeben ist, wie es bei der Flamme mitgegeben ist, sobald sie keine Nahrung mehr zugeführt erhält, das liegt nun einmal im Wesen der Wirklichkeit. Nibbāna ist nur dieser Zustand der Wollensfreiheit, der Suchtlosigkeit, auf den eine Wiedergeburt in irgend welcher diesseitigen oder jenseitigen Form nicht mehr folgen kann, weil in dem betreffenden Wesen keine Kraft mehr lebt, die zur Wiedergeburt führen könnte. Nibbāna wird gleichdeutend mit Verlöschen, ebenso wie bei der Flamme die aufhörende Nahrungszufuhr gleichbedeutend wird mit Verlöschen. In den Texten wird dieser Gedanke in der stereotypen Formel wiedergegeben. "Dieses ist die letzte Geburt. Ein Wiederdasein gibt es nicht mehr."

Das Sterben eines solchen, der nicht mehr zu neuem Leben in irgend einer Form erwacht, heißt Parinibbāna, Endgültiges Verlöschen, das ewige Nichtmehr; die einzige Ewigkeit, die der Buddhist anerkennt.

Der Gedankengang, den wir hier soeben über Nibbāna entwickelt haben, hat von jeher nicht nur bei uns, sondern auch im Osten viel Widerstand gefunden. Der menschliche Geist, solange er sich selber gegenüber nicht völlig beweglich geworden ist, solange er glaubt und seine Daseinswurzeln ins Transzendente reichen lässt, kann sich nicht vorstellen, dass diese "Verlöschen für immer" den Inhalt einer Religion bilden soll. Er wird vielmehr versuchen, dieses Leben hier als das sinnliche Korrelat eines ewigen Lebens in übersinnlicher Form zu deuten und sich dementsprechend den Nibbāna-Begriff formen. Aus dieser allgemein menschlichen Tendenz, die transzendente Wurzel des Daseins zu retten und dem Nibbāna einen positiven Sinn zu geben, ist das weite Gebiet entstanden, das man gemeinhin als den Nördlichen Buddhismus bezeichnet. Hier hat der Buddhismus sich die Degeneration gefallen lassen müssen, dass wieder Ewigkeitswerte in ihn eingeführt werden. Nibbāna und Parinibbāna erhalten hier in völliger Verkennung der wahren Natur des Buddhawortes den metaphysischen Sinn eines Positivums, treten aus der Wirklichkeit heraus, werden transzendent und folglich Glaubenssache. Damit ist dann der Buddhismus in seiner eigentlichen Bedeutung erledigt. Seine Schlagworte freilich bleiben bestehen; ja man kann sich auf Grund dieser Schlagworte sogar noch buddhistischer gebärden als der Buddha selber. Liebe, Mitleid und Wissen, die drei großen Kräfte, werden ins Maßlose gesteigert. Die Erlösung, die in der reinen Buddha-Lehre nur den Einzelnen betrifft, wie Hebung des Nichtwissens ja auch nur den Einzelnen betrifft, wird zum Streben nach Erlösung der ganzen Welt - kurz man ist wieder unter das Joch leerer Begriffe zurück geglitten, von dem der Buddha das menschliche Denken befreien wollte. Wer den Buddhismus so auffasst, als ob er auf ein positives Ziel hin wiese, der fasst ihn eben falsch auf. Und wenn eine gewisse moderne Richtung ihn so auffasst, nun so fasst sie ihn eben falsch auf und sie tut das, weil die alten Tendenzen, das Verwachsensein mit sich selber, nicht genügend gelöst sind.

Daher fassen sie die Erlösung, die der Buddha als seine große Liebesgabe der Menschheit darbietet, nach ihrem eigenen Geschmack auf. "Erlösung" ist Leitmotiv des Buddhismus, wie "Leiden" es auch ist. "Wie das Weltmeer überall nur einen Geschmack hat - den des Salzes, so hat meine Lehre überall nur einen Geschmack - den der Erlösung", sagt der Buddha selber. Aber man muss begriffen haben, was er mit "Leiden" meint, will man recht begreifen, was er mit "Erlösung" meint.

Das Wort "Erlösung", vimutti, heißt wörtlich nichts als Befreiung, Loslösung. Es handelt sich hier nicht um eine Erlösung mit transzendentem Beigeschmack, sondern lediglich um eine im Nachdenken zustande gekommene Loslösung von allem, woran man bisher gehaftet hat und wodurch sich bisher der Lebensvorgang selber unterhalten hat. Das Haften am Leben heißt: Das Leben selber im Gang erhalten. Lösen sich die Fäden, hört das Haften auf, so hört Leben auf. Wie eine Flamme eingeht, die nicht mehr weiter frisst, so geht ein Lebewesen ein, das nicht mehr weiter will. Es hört auf, ehrlich, wirklich, in einer Weise, die für metaphysisch-transzendente Spitzfindigkeiten keinen Raum mehr lässt.

Bliebe im Nibbāna, wie der Buddhist es zeigt, irgend ein positiver, unauflösbarer Kern zurück, so brauchten wir keinen Buddhismus. Dann wäre die ganze Lehre nichts als ein verunglücktes Plagiat der Glaubensreligionen. Aber Buddhismus seinem innersten Wesen nach ist ja eben die Einsicht, dass Leben als individueller Wert ein restlos aufhebbarer Wert ist. Erst aus dieser erkenntnis-theoretischen Basis wächst ja der Zweifel am Wert des Lebens hoch. Erst aus dieser Einsicht heraus kommt die Frage: "Lohnt es sich?" und erst aus dieser Einsicht heraus kommt die Antwort: "Es lohnt nicht". Fehlt diese erkenntnis-theoretische Basis, so wird das Verständnis für die Grundfolgerung des Buddhismus: "Leben ist ein Wert, der besser nicht da wäre" nie kommen; denn gefühlsmäßig lässt sich diese Grundfolgerung nie erzielen, und wo sie ist, als Lebensüberdruss aus sich selber ausbricht, da hat sie keinen Wert, weil sie lediglich Ergebnis betrogener Lebenssucht ist, deren Blüten vertrocknet, erfroren sind, deren Wurzel aber weiter keimt.

Diese Möglichkeit eines endgültigen Aufhörens bettete der Buddha in das wahrscheinlich schon vor ihm zum religiösen Rüstzeug gehörende Wort Nirvāṇa ein, wie er sich ja überhaupt gern der philosophischen und religiösen Schlagworte seiner Zeit bediente. Aber daraus nun den Schluss zu ziehen, dass er die selben im gleichen Sinne gebraucht habe, wie der Brahmanismus, das ist irrig. Gerade das beweist die unerhörte Selbständigkeit und Ursprünglichkeit seines Denkens, dass er es wagen konnte, alle diese hochtönenden Schlagworte in ein System aufzunehmen, ohne befürchten zu müssen, schließlich von ihnen überwältigt zu werden. Er spielt mit ihnen in einer Art erhabenen Humors, und dieses Spiel spielt er auch mit dem Wort Nirvāṇa.

Im Brahmanismus wird es im Sinne von gebraucht: Verlöschen alles Vergänglichen, um in ein Unvergängliches einzugehen. Es wird damit zum Ausdruck einer ewigen Seligkeit. Im Sinne des Verlöschens braucht der Buddha es auch, aber als Wirklichkeitler meinte er damit das, was allein verlöschen kann: das Wollen, die Triebe in ihrer dreifachen Form als Lust, Hass, Wahn . Ausdruck der Seligkeit ist es bei ihm auch, aber es ist die wirkliche, unmittelbar erlebte Seligkeit der Loslösung vom Dasein in sinnlicher wie übersinnlicher Form; die Seligkeit der Freiheit, über die hinaus es keine weitere Freiheit gibt. Denn was soll das für eine Freiheit sein, die sich vom Sinnlichen los löst, nur um sich im Übersinnlichen um so fester zu verankern?

Was man im echten Buddhismus unter Nibbāna zu verstehen hat, das geht klar aus Stellen hervor wie z. B. Majjhima-Nikāya I:

Da heißt es vom Nicht-Versteher: "Nibbāna fasst er unter dem Begriff Nibbāna auf, und hat er Nibbāna unter dem Begriff Nibbāna aufgefasst, so denkt er Nibbāna, denkt über Nibbāna, denkt Nibbāna als Begriff, denkt 'mein ist Nibbāna', erfreut sich des Nibbāna. Und was ist der Grund? Weil er es nicht verstanden hat, sage ich."

Dann heißt es weiter vom Versteher: "Nibbāna erkennt er unter dem Begriff Nibbāna, und hat er Nibbāna unter dem Begriff Nibbāna erkannt, so denkt er nicht Nibbāna, denkt nicht über Nibbāna, denkt nicht Nibbāna als Begriff, denkt nicht 'mein ist Nibbāna', erfreut sich nicht des Nibbāna. Und was ist der Grund? Weil er es verstanden hat, sage ich."

Mit dem Nibbāna setzt der Buddha den Schlussstein auf das Gebäude seiner Wirklichkeitslehre. Das Ziel des Lebens wird hier zu dem, was es in Wirklichkeit allein sein kann: ein Ende, ein Abschluss, ein Nichtmehr. Womit dann auch Religion zu einem rein individuellen Wert wird. Wie meine Weltanschauung und meine Moral nur mich allein betreffen, so betrifft auch meine Religion nur mich allein.

Damit aber erhebt sich der letzte und schwerste Einwurf gegen den Buddhismus, der sich für den modernen Menschen und seinen kritiklosen Lebenswillen zum schwersten Vorwurf auswächst: "Welchen Wert für die Menschheit kann eine Lehre haben, die letzten Grundes nichts tut, als den Weg zum Leben hinaus zu zeigen?"

Auf diesen Vorwurf ist zu erwidern: Der Buddhismus gibt den Weg zum Leben hinaus durchaus nicht als ein Ziel, dem man zustreben müsse. Damit würde ja Nibbāna zu einem begrifflichen "Etwas" werden und die ganze Lehre würde sich in sich selber zu Fall bringen. Nibbana ist durchaus nichts als ein begrifflicher Ausfallwert gegenüber dem Leben, ebenso wie Dunkelheit ein begrifflicher Ausfallwert gegenüber dem Licht ist. Wie die Dunkelheit nicht "Etwas" ist, dem das Licht zustreben könnte, so ist Nibbāna nicht "Etwas", dem das Leben zustreben könnte. Wie das Wesentliche an der Flamme nicht das Verlöschen ist, sondern das Brennen, so ist auch das Wesentliche am Leben nicht das Verlöschen, sondern das Brennen. Der Buddhist lebt nicht um zu erlöschen; er lebt freilich auch nicht um zu leben, wie es letzten Grundes bei jedem Glauben der Fall ist. Mit dem "Ich" und "Mein" hat jedes "Um-zu", jede Verzwecklichung aufgehört. Kann man beim Buddhisten überhaupt vom Zweck des Lebens reden, so ist es dieser unerschütterliche Gleichmut, der die Wirklichkeit begriffen hat, sich in Einklang mit ihr weiß und daher jedes Suchen nach Lebenszwecken aufgegeben hat. Sein Dasein geht auf in der immer wieder neuen Verwirklichung der Bedingtheit, der Wesenlosigkeit aller Lebenswerte. Nicht als ob Leben ihm dabei nun zu einem bloßen Schein, zu einem Trugbild würde, - o nein! Leben wird ihm zu einer brennenden Wirklichkeit und sein ganzes Dasein geht darin auf, es in diesem Fluss, in dieser Glut nie und nirgends mehr zum Ansetzen von Begriffsschlacken, die immer nur Ergebnis eines Nichtwissens und Ausdruck eines Haftens sein können, kommen zu lassen. Wo je der Ich-Begriff als Begriffsschlacke ansetzen will, da wird er immer wieder aufgelöst in der Glut des Denkens.

Ob es einen Menschen gibt, der das kann? Das weiß ich nicht. Ob ein Mensch, der alles dieses selber nicht kann, das Recht hat, mit dieser Lehre vor Andere hin zu treten, wie ich es eben bei Ihnen tue, das weiß ich auch nicht. Ich weiß nur mit unerschütterlicher Gewissheit, dass an dieser Lehre die kulturelle Zukunft der Menschheit hängt und dass man daher immer wieder versuchen muss, sie selber zu verwirklichen und andere zur Verwirklichung anzuregen. Sind die erreichten Fortschritte auch noch so gering, so darf man doch nicht den Mut verlieren. Ein Weg entsteht dadurch, dass er begangen wird. Wie das Gehen allein schon ihn bilden hilft, so hilft bei dieser Lehre schon der Versuch der Verwirklichung und der Versuch, sie Anderen zu zeigen. Die Schwierigkeit ist nur immer wieder die: Welches ist der beste und wirksamste Weg, sie zu zeigen? Wobei mir scheint, dass der beste und wirksamste Weg der ist, welcher sie in ihrer Bedeutung als moralischen Wert zeigt.

Diese Vorstellung, dass Leben ein Wert an sich ist, der seine Berechtigung, ja Notwendigkeit in sich selber trage, ist für die ganze menschliche Lebensführung von der ungünstigsten Bedeutung. Sie bewirkt, dass das Wie wir leben, sich nach der Tatsache richten muss, dass wir leben. Sie bewirkt, dass Moral danach bewertet wird, wie weit sie den Glauben an die Berechtigung und Notwendigkeit des Lebens unterstützt oder zum mindesten nicht erschüttert. Das ergibt ja freilich auch eine Moral, aber sie ist danach. Jede Moral, die auf dem Verwachsensein mit dem Ich-Begriff beruht, ist beschränkt und willkürlich. Eine freie, wirkliche Moral können wir erst dann haben, wenn dieses Feudalverhältnis der Moral zum Leben aufhört. Eine solche freie Moral gibt der Buddhismus in seiner Kamma-Lehre. In ihr liegt das eigentliche Wesen des Buddhismus. In ihr zeigt der Buddhismus, dass er keine Sterbenslehre, sondern eine Lebenslehre ist - eine Lebenslehre, die durch ihre Wirklichkeit und durch ihre über das Einzelleben nach beiden Seiten hin unbegrenzt hinaus gehende Breite zum wichtigsten moralischen Wert der Menschheit wird. Das Einzelleben ist viel zu eng, als dass sich wirkliche Moral in ihm betätigen könnte. Was hat es im Grunde genommen für Wert, moralisch zu leben, der Selbstsucht Zügel anzulegen, den bitteren Kampf mit sich selber zu kämpfen, wenn mit dem Tod alles für immer aus ist. Die Glaubensreligionen versuchen freilich mit ihrer Lehre vom Ewigen Leben nach dem Tod gegen diese moral-tötende Vorstellung anzukämpfen. Aber sie verlangen eben Glauben und eine Naivität des Denkens, die dem modernen Menschen längst verloren gegangen ist. Die auf idealistischen Motiven aufgebaute Moral unserer Zeit aber hat sich stets als unfähig erwiesen, den Kampf gegen die Selbstsucht da zu führen, wo er am notwendigsten wäre. Sie gleicht einem schönen Gemälde, welches diesen Kampf in seiner erhabensten Form darstellt, das aber Gemälde ist und keine Wirklichkeit. Wirkliche Moral kann erst dann wieder in die Welt einziehen, wenn die Wiedergeburten-Lehre des Buddhismus in die Geister der Menschen einzieht, diese wunderbare Lehre, die den Menschen zwingt, der Selbstsucht Zügel anzulegen - nicht aus Rücksicht auf Gott, nicht aus konventionellen Gründen, sondern aus Rücksicht auf sich selber.

Nun könnte man ja freilich versuchen, die Kamma-Lehre einfach dogmatisch als Wiedergeburtenlehre zu geben, etwa wie es jetzt im Osten geschieht. Es wäre denkbar, dass diese Lehre in den Schulen von Kindheit auf den Gehirnen eingehämmert würde, wie jetzt in den buddhistischen Schulen Ceylons und Burmas. Hier wird täglich immer wieder gelehrt: "Seid gut! Seid achtsam auf euch selber! Denn was ihr hier unrecht tut, dafür müsst ihr hier, in dieser gleichen Wirklichkeit in neuer Form büßen. Bedenkt! Ihr werdet wiedergeboren, hier in dieser Welt, hier in diese Welt hinein. Ihr seht ja täglich rings um euch, wie viele Büßens-Möglichkeiten diese Welt hat. Hier gibt es alle denkbaren Möglichkeiten für Hölle und Fegefeuer. Also hütet euch! Wollt ihr das bei eurer Wiedergeburt nicht selber erleiden, was ihr jetzt schaudernd andere leiden seht, so haltet euch danach, enthaltet euch, legt eurer Selbstsucht Zügel an. Es lohnt sich!"

Jede Moral besteht letzten Grundes in dem Entschluss, selbstlos zu sein. Soll Moral wirklich sein, so muss sie die Motive für diesen Entschluss geben. Dieses Motiv verlegen die Offenbarungsreligionen in den Glauben. Dieses Motiv verlegt unsere ungläubige Zeit ins Ästhetische. Moral üben wird hier sozusagen zur Sache des guten Geschmacks. Beides sind keine wirklichen Motive. Wirkliche Motive müssen aus dem Denken stammen. Ein solches wirkliches Motiv gibt nur die Wiedergeburtenlehre und auch sie nur, wenn sie nicht als Dogma gelehrt wird, wie jetzt in den Schulen des Ostens, sondern wenn sie gedankliche Frucht der Anatta-Lehre ist. Diese dogmatische Wiedergeburtenlehre des Ostens kommt immer mehr in die Gefahr, vom Christentum fort geschwemmt zu werden. Und der Grund hierfür ist ihr dogmatischer Charakter. Weil sie nicht das ist, was sie sein soll: Funktion des Denkens, Ergebnis eines Begreifens, so steht hier einfach Dogma gegen Dogma. Und welches Dogma hier die Oberhand gewinnt, das wird lediglich von äußeren Umständen abhängen, die für das Christentum zur Zeit sehr viel günstiger sind als für den Buddhismus.

Dogmatisch bleibt die Wiedergeburtenlehre auch in Form der Seelenwanderungslehre des Vedanta, wo sie eben den Glauben an eine Seele, an ein ewiges, unveränderliches Prinzip im Menschen voraussetzt. Zur dogmafreien Wirklichkeit wird die Wiedergeburtenlehre erst, wenn sie Ergebnis der Anatta-Lehre geworden ist. Erst damit wird die gedankliche Stellung gegenüber dem Leben und seinen Werten genügend geändert, um überhaupt wirkliche Moral möglich und Leben menschenwürdig zu machen. Denn wahre Moral, Moral, die auf Selbstdenken beruht, kühlt, macht nachgiebig und duldsam. Falsche Moral, die nicht aus der Beschäftigung mit sich selber, sondern aus der Beschäftigung mit den Dingen hervor geht, macht hitzig, unnachgiebig, unduldsam. Kampf und Streit auf der Welt stammen ja nicht daher, dass die Dinge zu eng sind, sondern dass unsere Augen zu weit sind. In einer Sure des Koran heißt es: "Und weite deine Augen nicht nach dem, was andere genießen! - Glanz des Lebens, eine bloße Prüfung." So sagen auch wir: Weite deine Augen nicht nach fremden Besitz! Eitler Glanz! Weite dein Denken, dass du das alles seinem wahren Wert nach begreifen und abschätzen lernst.

An der richtigen Einschätzung der Lebenswerte mit zu arbeiten, das ist Hauptaufgabe des Buddhismus, soweit seine Wirkung auf die Allgemeinheit geht. Und wenn er je anfinge, sich in dieser Einsicht geltend zu machen, so würde man bald merken, von wie ewig junger Bedeutung diese älteste aller Weltreligionen ist. Sie ist Wirklichkeitslehre und Wirklichkeit bleibt immer wirklich, mag sie uns auch noch so wenig behagen.

Damit kommen wir zum dritten Teil unseres Vortrages: "Was will der Buddhismus?"

Seit dem Erscheinen dieser Zeitschrift hat man mich des öfteren gefragt: "Was beabsichtigen Sie mit ihrem Auftreten? Wollen Sie die christliche Religion bekämpfen?" Ich antwortete: "Nein! Nicht deshalb, weil ich sie für gut bzw. zeitgemäß halte, sondern deshalb, weil das ein vergebliches Bemühen sein würde. Demjenigen, der wirklich glaubt, dem wird der Buddhismus nie nützen. Der wirklich Gläubige braucht keinen Buddhismus. Aber der Glaubenslose, der sich dem Indifferentismus des Alltagslebens nicht fügen kann, der nach einem höheren Halt verlangt, für den spricht der Buddha. Und diesen denkenden Glaubenslosen der ganzen Welt, rücksichtslos gegen Konfession, gegen Nation, gegen Rasse und Stand, den inneren Halt, die Sicherheit und Befriedigung des Gemüts zu geben, das will der Buddhismus."

Der denkende Glaubenslose hat es immer schwer in der Welt. Der Gläubige, wenn er es wirklich ist, erträgt alles. Bei allen Schwierigkeiten, bei allen Unbegreiflichkeiten verweist er vorwitzige Frager (und sich selber mit) auf den unerforschlichen göttlichen Ratschluss. Der Indifferente ist zufrieden, wenn er sein Auskommen hat und macht sich im übrigen kein sonderliches Kopfzerbrechen. Letzten Grundes hat der denkende Glaubenslose das Martyrium der Menschheit zu tragen, und nur für ihn wird der Buddhismus die frohe Botschaft, das neue Evangelium sein können.

Man wirft ein: "Mag es auch sein, dass der Buddhismus für einen mehr oder weniger großen Teil der Menschen eine frohe Botschaft ist, - wird diese Botschaft immer zeitgemäß sein? Könnte es nicht Zeiten geben, für die eine solche Botschaft nicht zeitgemäß, ja schädlich ist? Könnte es nicht sein, dass gerade unsere Zeit mit ihr aufs äußerste gesteigerten Strebkraft zu ihnen gehört, so dass hier jeder Versuch, buddhistischer Tendenzen zu verarbeiten, am falschen Platze wäre?"

Darauf ist zu erwidern: Das alles könnte sein, wenn der Buddhismus gegen Dinge und Begriffe selber anrennte, anders ausgedrückt: wenn er Polemik triebe gegenüber der Welt. Der Buddhismus kämpft aber nicht gegen die Welt. Er kämpft nicht gegen die konventionellen Lebenswerte. Er rüttelt nicht an den Dingen - er rüttelt nur am eigenen Innern. Er ist nichts als die stille, aber unablässige und ernsthafte Mahnung, sich an sich selber zu halten, und eine derartige Mahnung kann auch in der gespanntesten Zeit mit gutem Gewissen gegeben werden. Keiner Zeit kann eine derartige Mahnung zur Selbstbesinnung zum Schaden gereichen. Sie wendet sich immer an die Menschheit als Ganzes und ist über jeden Parteistandpunkt, dem Polemik in jeder Form stets verfällt, erhaben.

Dem entspricht, dass der Buddhismus keine Propaganda im gewöhnlichen Sinne treibt. Täte er das, so müsste er mit einem bestimmten Programm kommen. Er kommt aber mit keinem Programm, nicht einmal mit dem des Weltfriedens. Wie ihm jede Sucht fremd ist, so ist ihm auch die Sucht fremd, sich selber auszubreiten. Er zeigt nur, ebenso wie das Licht, wenn es die Dunkelheit vertreibt, von keiner Sucht getrieben wird, sondern sich selber zeigt. Als reine, dogmenfreie Lehre gibt er nichts als eine gedankliche Anregung, deren Verarbeitung und Verwirklichung Sache des Einzelnen ist. Ist der nicht fähig, diese Anregung aufzunehmen, nun so wird er den Buddhismus abweisen und von ihm abgewiesen werden, und weder Überredung noch Beweis werden hier helfen können. Eine zur Selbstbesinnung nicht geneigte Zeit ist gegenüber buddhistischen Einflüssen so sicher, wie der Säugling gegenüber der Logik. Alle Aussichten des Buddhismus liegen daher darin, dass er auf Zeiten trifft, die zur Selbstbesinnung geneigter sind als andere.

In wie weit die abnormen Zeiten, in denen wir leben, zur Selbstbesinnung geneigt machen, das wird schwer zu bemessen sein. Tatsache ist, dass unsere Zeit die Zeit der Neuorientierungen ist. Buddhismus ist letzte, höchste, innerste Neuorientierung. Wir sind überzeugt, dass die Zukunft der Menschheit im wesentlichen dadurch bestimmt werden wird, in wie weit sie fähig ist, sich von buddhistischen Richtlinien durchsetzen zu lassen. Aber wir sind keine Schwärmer und erwarten nichts vom Schwärmen anderer. Wir wissen nur zu gut, dass jenes Wort des Buddha: "Mag ich die Lehre kurz darlegen, mag ich sie ausführlich darlegen - Versteher sind schwer zu finden" für jede Zeit ausnahmslos gilt. Wenn es nach ihr allein geht, so hat die Welt nie Zeit umzudenken, ebenso wenig wie sie Zeit hat Moral zu üben. Sie ist immer mit irgend etwas auf das eifrigste beschäftigt, das ihre Lebensmöglichkeiten bedroht und sie an der Selbstbesinnung hindert. Sie gleicht ewig einer Kreißenden, die ewig gebären will und die jedem, der sie zur Selbstbesinnung mahnt, voller Entrüstung zuruft: "So lass mich doch erst einmal fertig gebären und dann komm' mit deiner Sache. Im Augenblick habe ich wichtigeres zu tun als zu denken."

Aber wenn wir das auch alles nicht verkennen, so soll die augenscheinliche Aussichtslosigkeit uns doch nicht abhalten, unseren Weg zu gehen. Wir wissen: Je größer ein Schiff, um so langsamer kommt es in Gang und: Ein Weg entsteht dadurch, dass er gegangen wird. Als einen solchen Versuch der Wegbereitung soll man auch diesen Vortrag ansehen. Möge er sich als solcher erweisen. Das walte Vernunft.



 

 

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