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Die vier erhabenen Weilungen
(brahma-vihāra)
Betrachtungen für buddhistische Meditation und Praxis

von

Ñāṇapoṇika Mahāthera

 

Buddhadarstellung
Skulptur im Nationalmuseum Neu-Delhi


I
Liebe (mettā)

Liebe, die nicht besitzen will, weil sie weiß, dass es in Wirklichkeit keinen Besitz und keinen Besitzer gibt, das ist die höchste Liebe.
Liebe, die nicht "Ich" sagt, weil sie das "Ich" als Täuschung weiß (anatta).
Liebe, die nicht sondert, wählt und ausschließt, wohl wissend, dass sie damit nur ihren Gegensatz erzeugt: Missgunst, Abneigung, Widerwillen und Hass.
Liebe, die alle Lebewesen umfasst: kleine, große, ferne und nahe, die Bewohner der Erde, des Wassers und der Luft.
Liebe, die alle Wesen umfasst: die edel gesinnten die niedrig gesinnten, die guten und die nicht-guten. Die Edlen und die Guten umfasst sie, weil zu ihnen die Liebe zwanglos strömt. Die Niedriggesinnten und die Nicht-Guten umfasst sie, weil sie der Liebe am meisten bedürfen. In vielen von ihnen mag der Keim des Guten verkümmert sein, weil ihm die Wärme fehlte zu seinem Gedeihen, weil er in liebloser Umwelt erfror.
Liebe, die alle Wesen umfasst, wohl wissend, dass sie alle unsere Weggefährten sind auf der Weltenwanderschaft, Genossen unseres Leidens. Gemeinsames Erleiden ist ein starkes Band unter den Wesen.
Liebe - doch nicht jene verzehrende, brennende Glut der Sinne, die mehr Wunden zufügt als heilt; die jetzt aufflackert, im nächsten Augenblick verlischt und nur um so stärkere Kälte zurück lässt.
Liebe vielmehr, die wie eine milde und doch starke Hand auf den leidenden Wesen ruht, stets sich selber gleich, ohne Schwanken, unbeirrt, welche Erwiderung sie findet. Erquickende Kühlung dem, der in des Leidens und der Leidenschaften Flammen brennt. Belebende Wärme dem, den die Kälte der Verlassenheit angerührt hat, der im Frost einer lieblosen Welt erzittert, dessen Herz leer geworden ist über Hilferuf und Verzweiflung.
Liebe, die eine wissende, verstehende, helfende Güte ist, Liebe, die Kraft ist und Kraft gibt - das ist die höchste Liebe.
"Befreiung des Herzens" nannte der Erhabene die Liebe.
"Erhabenste Schönheit" nannte der Erhabene die Liebe.
Und was ist die höchste Tat der Liebe?
Den Wesen durch Tat und Wort den Weg der Leidbefreiung zu zeigen, wie er gewiesen, gegangen und vollendet wurde von Ihm, dem Erhabenen, dem Buddha.

 

II
Mitleid (karuṇā)

Die Welt leidet, doch die meisten Menschen verschließen ihr Auge, verschließen ihr Ohr. Sie wollen nicht den Tränenstrom sehen, der durch die Welt fließt, sie wollen nicht den Leidensschrei hören, der beständig durch die Welt ertönt. Ihre eigene kleine Sorge oder Freude versperrt ihnen den Blick und macht taub ihr Ohr. Im Gefängnis ihres kleinen "Ich" ist ihr Herz erstarrt und eng geworden. Ein also starres und enges Herz, wie wäre es fähig, nach Hohem zu streben und zu verstehen, dass nur die Lösung aus selbstischer Enge die Befreiung vom eigenen Leid ermöglicht.
Da ist Mitleid, der große Riegelheber. Mitleid vermag das Tor in die Freiheit zu öffnen - das kleine Herz zum Umfangen der Welt zu weiten - die lastende, lähmende, dumpfe Schwere von ihm zu nehmen - dem Erd- und Ich-Gebundenen Flügel zu verleihen.
Durch Mitleid ist uns Leiden immer gegenwärtig, auch dann, wenn es nicht zu uns selber kommt. Es gibt reiche Erfahrung im Leid, in seinen mannigfachen Formen und stählt und schult uns so, dem Leid zu begegnen, wenn es uns selber trifft.
Mitleid versöhnt mit dem eigenen Geschick, indem uns das noch schwerere anderer Wesen zeigt.
Dieser lange Zug leidender Wesen - Tiere und Menschen -, das alles warst du selbst einmal in der endlosen Kette der Wiedergeburten! Also wissend, öffne dein Herz dem Mitleid!
Und dies alles kannst du auch wieder einmal werden. Bist du mitleidlos, so wirst du nach Mitleid seufzen. Fehlt dir Verstehen für das Leid des Anderen, so wirst du es, oft schmerzlich, durch eigene Erfahrung erwerben müssen. So will es das Gesetz des Wirkens. Also wissend, wache über dich selbst!
Im Nichtwissen befangen sind die Wesen. Im Wahne befangen häufen sie Leiderfahrung auf Leiderfahrung, ohne die Ursache zu kennen, ohne den Ausweg zu finden. Das - nicht die einzelne Schmerzempfindung der Wesen - ist der tiefste Grund für unser Mitleid. So wird auch dem unser Mitleid gelten, den wir zwar augenblicklich im Glück, aber dabei Übles und Törichtes wirken sehen, denn in seinem jetzigen Tun sehen wir sein künftiges Leid.
Das Mitleid des Wissenden aber "leidet" nicht mehr "mit". Sein Geist, sein Wort, sein Tun sind voller Erbarmen. Doch sein Herz erzittert nicht dabei, es bleibt ruhig und fest. Wie könnte er sonst helfen?
Möge uns solches Mitleid werden!
Mitleid, das wissende, verstehende, helfende Güte ist.
Mitleid, das Kraft ist und Kraft gibt - das ist höchstes Mitleid.
Und was ist die höchste Tat des Mitleids?
Den Wesen durch Tat und Wort den Weg der Leidbefreiung zu zeigen, wie er gewiesen, gegangen und vollendet wurde von Ihm, dem Erhabenen, dem Buddha.

 

III
Mitfreude (muditā)

Nicht nur in Mit-Leid, sondern auch in Mit-Freude öffne dich den Wesen!
Karg bemessen ist Glück und Freude in der Welt: "Leid überwiegt", hat der Erhabene gesagt.
Wenn nun dies Wenige an Glück und Freude den Wesen zuteil wird, so mögest auch du dich mit ihnen darüber freuen, das ein Lichtstrahl das Dunkel ihre Leidens erhellte, die grauen, trüben Nebel ihres Alltages zerriss.
Dein Leben wird an Freude gewinnen, wenn du Freude anderer Wesen zu deiner eigenen machen kannst.
Sahest du nicht schon, wie im Augenblick der Freude das Antlitz eines Menschen sich wandelte und verklärte? War dies nicht schön und eine beglückende Erfahrung, besonders, wenn du selbst der Anlass dieser Freude warst. Erlebtest du nicht schon, wie Freude gute, edle Entschlüsse und Taten in einem Menschen weckte, die über sein gewöhnliches Maß hinausgingen? War dies nicht noch schöner und beglückender? An uns liegt es, dieses Schöne und Beglückende der Mitfreude öfters zu erleben, indem wir selber Freude schaffen, selber den Wesen Freude geben. Keine Schätze und Reichtümer bedarf es dazu, sondern eines liebenden Herzens, das wirklich den Nächsten (und nicht nur seinen Schatten) sieht und das die Mitfreude kennt.
Lehren wir auch die Menschen, sich zu freuen! Wie viele haben es verlernt und vergessen! So leidvoll das Dasein auch ist, es enthält doch Möglichkeiten der Freude und des Glücks, die viele nicht kennen. Lehren wir die Menschen diese vernachlässigten Quellen der Freude und des Glücks zu suchen und zu finden: in sich - und, als Mitfreude - im Anderen! Lehren wir sie, immer höhere und edlere Freuden zu entdecken!
Hohe und edle Freude ist in der Lehre des Buddha nicht fremd. Zu Unrecht gilt sie als Lehre der Trübsal. Führt sie doch vielmehr von Stufe zu Stufe zu immer reinerem und erhabenerem Glück.
Hohe, edle Freude ist ein Helfer auf dem Pfade der Leidbefreiung. Denn nur der Geist des Freude-Erfüllten, nicht des Leid-Verstörten vermag jene heitere Ruhe zu finden, die zur Sammlung führt. Und nur ein ruhevoller, gesammelter Geist vermag zur erlösenden Weisheit durchzudringen. Je höher und edler die Freude im anderen ist, je größer wird unsere Mitfreude sein.
Ein Grund zur Freude ist der gute Wandel des Anderen, der ihm gute Frucht verbürgt in diesem und im künftigen Sein. Bestärken wir ihn darin! Ein höherer Grund zur Freude ist sein Vertrauen zur Buddhalehre, sein Verstehen der Lehre, sein Wandel in der Lehre. Helfen wir ihm darin und machen wir uns selber fähig, ihm darin immer mehr zu helfen.
Mitfreude, die wissende, verstehende, helfende Güte ist,
Mitfreude, die Kraft ist und Kraft gibt - das ist höchste Mitfreude.
Und was ist die höchste Tat der Mitfreude?
Den Wesen durch Tat und Wort den Weg der Leidbefreiung zeigen, wie er gewiesen, gegangen und vollendet wurde von Ihm, dem Erhabenen, dem Buddha.

 

IV
Gleichmut (upekkhā)

Gleichmut ist das vollkommene, unerschütterliche Ebenmaß des Gemütes, wurzelnd in Erkenntnis.
Wenn wir nun um uns blicken in die Welt und in uns, in unser Herz, so sehen wir, wie schwer es ist, ein Ebenmaß des Gemütes zu erwerben und es zu bewahren.
Wir sehen das ununterbrochene Auf und Ab des Lebens, auch unseres Lebens. Wir sehen Aufstieg und Sturz, Erfolg und Misslingen, - wir erfahren Ehre und Verachtung, Lob und Tadel, und wir fühlen, wie unser Herz auf all dies antwortet mit Glück und Schmerz, Entzückung und Qual, Enttäuschung und Befriedigung, Furcht und Hoffnung. Und die mächtigen Wogen des Gefühls reißen uns hinauf, schleudern uns hinab und kaum haben wir in einem kurzen Intervall der Stille Atem geschöpft, so kommt eine neue Welle und treibt ihr Spiel mit uns. Wie können wir Fuß fassen auf dem Kamm einer Woge? Wie können wir Bauwerke errichten im Flutbereich dieser Welt, es sei denn, auf dem Felsen-Eiland des Gleichmuts?
Eine Welt, wo das Wenige an Glück, das den Wesen zuteil wird, meist nur nach vielen Enttäuschungen, Fehlschlägen und Niederlagen erreicht wird,
eine Welt, wo nur der Mut, immer wieder neu zu beginnen, Erfolg verspricht - wo karge Freude nur inmitten von Krankheit, Trennung und Tod erwächst - wo ein Wesen, mit dem wir eben noch in Mitfreude verbunden waren, im nächsten Augenblick schon unser Mitleid benötigt - eine solche Welt braucht Gleichmut.
Doch es muss ein Gleichmut sein, der wache Kraft ist, nicht stumpfe Gleichgültigkeit; der, in bewusster Pflege stark geworden, nicht abhängig ist vom Zufall einer Stimmung. Ein Gleichmut, der nicht erst durch mühsame Anstrengung immer wieder neu erzeugt werden muss, sich dadurch selber erschöpft und abnützt und schließlich so unterliegt; ein Gleichmut vielmehr, der die Fähigkeit der Selbsterneuerung besitzt. Doch nur ein Gleichmut, der in Erkenntnis wurzelt, hat diese Kraft.
Welches ist nun diese Erkenntnis?
Es ist das Wissen darüber, woher all dieses Erleben kommt, das den Menschen beglückt und quält, ihn zittern und hoffen lässt; es ist ferner das Wissen davon, wen dieses Erleben trifft.
Alles, was uns widerfährt, stammt aus dem Mutterschoß unseres Wirkens in Taten, Worten und Gedanken (kamma-yoni). Wir sind gleichsam die Eigentümer unseres Wirkens (kammassakka). Nicht entlassen wir die Tat aus unserem "Besitz", wenn sie auf andere Menschen gerichtet ist. Sie bleibt unser "eigen", da sie zunächst einmal auf uns selber wirkt, uns zum Guten oder Schlechten verändert. Und auch in ihren Folgen kehrt sie zu uns zurück, fällt uns zu als das uns gebührende Erbe (kamma-dāyāda). Nichts, was uns widerfährt, kommt aus einem bedrohlich-unbekannten Fremden, aus einem feindlichen "Außen", es kommt aus unserem eigenen Wirken. Ein solches Wissen ist die erste Quelle des Gleichmuts, denn es befreit uns von der Furcht, die so oft den Gleichmut stört. In allem, was uns widerfährt, begegnen wir nur uns selbst. Vor was also sollten wir uns fürchten? Und befällt uns doch einmal die Furcht vor dem Ungewissen, so kennen wir die sichere Zuflucht: nämlich unser Wirken, unser gutes Wirken (kamma-paṭisaraṇa). Vertrauen erfüllt uns zur schützenden Kraft jenes Guten, das wir in der Vergangenheit taten. Und Mut erfüllt uns, eben in dieser Gegenwart Gutes zu wirken, selbst dann, wenn gerade die Last eines schweren Geschickes auf uns ruht. Denn wir wissen, dass es für gutes Wirken niemals zu spät, dass dazu immer die "rechte Zeit" ist; dass der Segen davon nicht nur in ferner Zukunft, sondern auch schon jetzt während des Tuns erfahren wird. Je länger wir uns bewusst üben, Gutes zu tun und Schlechtes zu meiden, desto stärker wird in uns die Gewissheit: Mehr und mehr schwindet Übles, nur noch Gutes kann die Zukunft bringen! Und durch solche Gewissheit entsteht in uns Freude und Verrauen, Geduld und Gleichmut. Dann wird das Wirken zum Freund (kamma-bandhu) und mit ihm jene Wechselfälle des Lebens, die das Ergebnis unseres Wirkens sind. Auch sie werden zu Freunden, selbst wenn sie uns Leid bringen. Unser Wirken kehrt zu uns oft in einer Form zurück, in der wir es schwer oder gar nicht wieder erkennen.
Seine Ergebnisse mögen uns begegnen in einer unerwarteten Rückwirkung, die es bei anderen auslöst. In einer überraschenden Veränderung unserer eigenen Situation usw. Hierin werden Folgen unseres Wirkens sichtbar, die vorher nicht bedacht wurden: es werden unterbewusste Triebkräfte deutlich, die zuvor verhüllt waren durch andere Motivierungen. Wenn wir nun für diese Dinge einen Blick erwerben; wenn wir diese Botschaften, die wir ja selbst entsandt haben, zu lesen verstehen, samt dem Kommentar, den das Leben dazu schreibt - dann wird uns das Leid zu einem wohl strengen, doch wahrhaftigen und wohlmeinenden Freund, der uns belehrt und warnt. Leiderfahrung belehrt uns über den schwierigsten Gegenstand - über uns selbst. Sie warnt uns, oft im letzten Moment, vor Abgründen, auf die wir uns zu bewegen. Wenn wir so das Leid als Freund und Lehrer betrachten, so wird es uns leichter, ihm mit Gleichmut zu begegnen. Dann wird schließlich die Lehre vom Kamma zum Ansporn, uns vom Kamma selbst zu befreien, d.h. von all dem Wirken, das uns immer wieder in das Leid der Wiedergeburten stürzt, das immer wieder unsere Kraft, unseren Widerstand, unseren Gleichmut zu brechen sucht. So öffnet uns die Lehre vom Kamma das Tor zur Erlösung, zum Heiligen Gleichmut.
Die zweite Erkenntnis, auf die sich der Gleichmut gründen muss, ist die Lehre des Buddha vom Nicht-Ich (anatta), welche diejenigen im konventionellen Sinn gebrauchten Worte berichtigt, die wir oben nur um einer vorläufig vereinfachten Darstellung willen benutzt haben, wie "eigenes Wirken" und ähnliches. Die Lehre vom Nicht-Ich zeigt, dass das Wirken weder von einem Ich, einer Persönlichkeit ausgeht, noch in seinen Folgen ein Ich oder eine Persönlichkeit trifft. Sie zeigt, dass, wo kein Ich ist, auch kein "Mir eigen" sein kann. Es ist das Ich-Denken, das Leiden schafft, Gleichmut verhindert oder ihn zum Wanken bringt. Wird diese oder jene Eigenschaft getadelt, so denkt man: "Mich tadelt man" und der Gleichmut wird erschüttert. Schlägt dieses oder jenes Werk fehl, so denkt man: "Mein Werk ist misslungen" und Gleichmut zerbricht. Schwindet Reichtum, so denkt man: "Mein Besitz ist dahin" und Gleichmut geht verloren.
Will man nun den Gleichmut sicher ergründen, so hat man sich allmählich zu üben im Aufgeben des Mein-Gedankens, beginnend mit Dingen, von denen man sich ohne große Schwierigkeiten trennt, bis zu Besitztümern und Zielen, an denen man mit seinem ganzen Herzen hängt.
Stufenweise hat man sich zu üben im Aufgeben des Ich-Gedankens, beginnend mit einem kleinen Ausschnitt seines sogenannten Ichs: mit Eigenschaften geringer Wichtigkeit, kleinen Gewohnheiten und Schwächen; bis man schließlich zu jenen Gefühlen und Gedanken, Zuneigungen und Abneigungen kommt, mit denen man sich völlig identifiziert, völlig verwachsen fühlt, die man für das Zentrum des Ichs hält.
Je mehr man sich vom Ich- und Mein-Gedanken löst, desto stärker wird der Gleichmut. Denn wie sollte das, was man als fremd und wesenlos erkennt, Beunruhigung bringen, sei es durch Lust oder durch Leid?
So führt die Lehre vom Nicht-Ich direkt auf den Weg zur Erlösung zum Heiligen Gleichmut.

Gleichmut ist die Krönung und Vollendung der Erhabenen Weilungen.
Nicht ist dies so zu verstehen, als ob Gleichmut die drei anderen Weilungen, Liebe, Mitleid und Mitfreude aufhebt und hinter sich lässt. Vielmehr: Gleichmut umgreift, durchdringt, durchsättigt sie völlig - so wie auch vollendetster Gleichmut seinerseits von diesen dreien durchdrungen sein muss.

So nun ist der "Erhabenen Weilungen" gegenseitige Durchdringung:
Liebe, die unbegrenzte, schrankenlose, bewahrt das Mitleid davor parteiisch zu werden, sich wählend und ausschließend zu umgrenzen und sich so von der anderen, ausgeschlossenen Seite zu entfremden. Liebe gibt für Mitfreude das stärkende und tiefere Motiv und spornt an, Gelegenheiten für Mitfreude zu schaffen. Liebe gibt dem Gleichmut von ihrer Selbstlosigkeit, Unbegrenztheit, Wärme und bezwingenden Kraft.
Mitleid bewahrt die Liebe und die Mitfreude davor, über dem zeitlichen und begrenzten Glück, das sie selber umschließen und den anderen geben, das nicht zu vergessen, dass gleichzeitig mit diesem Glück furchtbarstes Leiden besteht; dass eben dieser Bau des Glückes auf einem Leidens-Grund errichtet ist; dass es mehr Leiden gibt als Liebe und Mitleid zu lindern vermögen; dass, nachdem die Wirkung dieses Linderns verklungen, wieder Leiden da sein wird, so lange bis nicht die Wurzel des Leidens vernichtet ist. Mitleid duldet nicht, dass sich Liebe und Mitfreude abschließen gegen die weite Welt außerhalb ihres Bezirkes, dass sie selbstgenügsam, selbstzufrieden, in ängstlich gehütetem "kleinen Glück" ihr Leben fristen. Unablässig drängt das Mitleid dazu, dass Liebe ihr Bereich erweitert, dass Mitfreude neuen Anlass erhält, dass beide zu wahrhaft "unerlässlichen" werden. Wie alle vier Weilungen auch genannt werden.
Mitleid schützt den noch nicht völlig gereiften Gleichmut davor, in Gleichgültigkeit zu verfallen, bewahrt ihn vor selbstischem, allzu bequemen Sich-Abschließen, führt ihn immer wieder auf das Kampf-Feld der Welt, sich dort zu bewähren, zu härten, zu stählen.
Mitfreude gibt der Liebe die nötige Nahrung und Belebung, die sie davor schützt, matt zu werden. Mitfreude bewahrt das Mitleid davor, sich allzu tief in das Leiden einzugraben, von ihm überwältigt und dadurch selbst mitleidsbedürftig zu werden. Sie löst die Spannungen, besänftigt das Brennen des mitleidenden Schmerzes. Mitfreude verhindert, dass das Mitleid zu einem ergebnislos in sich kreisenden, sich selbst verzehrenden Gefühl wird; so führt es zu tätigem Erbarmen, so dass der Gegenstand des Mitleids zu einem der Mitfreude werde. Mitfreude gibt dem vollendeten Gleichmut die ruhige Heiterkeit und Milde, die ihm eignet. Sie ist das Lächeln auf dem Antlitz des Erleuchteten - ein Lächeln, das sich zeigt trotz seines durchdringenden Leidwissens, trotz eines tiefen Mitleids. Ein Lächeln ist es, das Trost gibt, Hoffnung, Furchtlosigkeit und Zuversicht. "Geöffnet sind die Tore des Todlosen", so spricht es.
Gleichmut nun, der in Erkenntnis wurzelt, ist in den anderen Dreien die lenkende und zügelnde, die Richtung weisende und über die Einhaltung der Richtung wachende Kraft. Gleichmut bewahrt Liebe und Mitleid davor, sich fruchtlos zu verströmen, sich in Labyrinthe zu verirren. Er hindert Mitfreude daran, mit Geringerem, Unzulänglichem zufrieden, das Ziel zu vergessen.
Gleichmut ist das "gleiche Maß" der Liebe, ihre Beharrlichkeit und Treue; er ist in ihr die große Tugend der Geduld, an deren Mangel so oft die Liebe zerbricht. Gleichmut erscheint im Mitleid als der "gleiche Mut", die Unerschrockenheit vor den Abgründen, die sich vor dem Mitleid auftun. Dem tätigen Erbarmen verleiht Gleichmut die ruhige, sichere, kraftvolle, wissende Hand, die der Helfende braucht. Und wiederum ist er auch hier beim tätigen Mitleid die Geduld, die geduldige Hingabe an das Werk.
Gleichmut ist die Krönung und Vollendung der drei ersten Erhabenen Weilungen. Diese nämlich, wenn unverbunden mit Gleichmut, mögen verglichen werden mit einzelnen guten Eigenschaften eines Menschen, die, ohne das Bindeglied eines zielbewussten Charakters, sich verschwenden, nicht zur vollen Auswirkung gelangen und sogar manchmal den Menschen in eine Richtung drängen, die seinem eigentlichen Lebensziel und dem Wohl anderer entgegengesetzt ist. Es ist der sogenannte "Charakter" einer Persönlichkeit, der die einzelnen Eigenschaften zu einem organischen Ganzen zusammenfasst, sie miteinander sinnvoll verknüpft, ihnen die Richtung gibt und so die kraftvolle Harmonie einer Persönlichkeit schafft. Ganz genau so wirkt Gleichmut auf die drei anderen "Weilungen". So ist er Krönung und Vollendung.
Gleichmut ist vollkommenes, unerschütterliches Ebenmaß des Gemütes, wurzelnd in Erkenntnis.

Nicht ist seine Vollkommenheit und Unerschütterlichkeit die leblose Starre und passive Beharrungskraft der Materie, ist nicht Stumpfheit, Fühllosigkeit und Kälte. Seine Unerschütterlichkeit kommt nicht aus irgend einem Mangel, sondern aus der Fülle. Sie ist nicht die Unempfänglichkeit eines kalten, toten Gesteins, sondern eine lebendige Kraft, die alles, was sie erschüttern will zu überwinden nur in sich einzubeziehen vermag.

Beseitigt sind alle hemmenden Stauungen des Inneren, geschwunden alle abwärts reißenden Wirbel von Gefühl und Gedanke. Ungehindert in ruhig-kraftvollem Gleichmaß fließt der Strom des durch den Gleichmut geläuterten Bewusstseins dahin. "Rechte Achtsamkeit" (sati) hat die Wärme des "Vertrauens" (saddhā) mit der Schärfe der "Weisheit" (pañña) geeint, hat die "Kraft des Willens" (viriya) mit der "Sammlung des Geistes" (samādhi) zum Ebenmaß gebracht, und diese harmonisierten fünf "inneren Fähigkeiten" (indriya) sind zu unverlierbaren "Kräften" (bala) geworden. Unverlierbar sind sie, weil sie sich nicht mehr an die Dinge verlieren. Die "Kräfte" strömen aus; doch da sie, bewacht durch rechte Achtsamkeit, sich nirgend binden, kehren sie unvermindert zurück. Liebe, Mitleid, Mitfreude strömen aus; doch da sie, bewacht durch Gleichmut, nirgend haften, kehren sie ungeschmälert zurück. So nimmt der Heilige (denn von ihm haben wir jetzt gesprochen) nicht ab durch Geben, wird nicht ärmer durch Schenken. Der Heilige ist wie der klare, wohlgeschliffene Kristall, der, da er selber ohne jeden verdunkelnden Makel ist, alle Strahlen voll aufnimmt und sie gesammelt und dadurch verstärkt wieder aussendet. Nicht nimmt der Kristall selber die Farbe der mannigfachen Strahlen an, nicht verliert er seine Reinheit und Klarheit. Und viel weniger noch vermögen diese Strahlen ihn zu durchbohren oder sein harmonisches Gefüge zu stören.

"Gleichwie alle Flüsse in der Welt in das große Meer eintreten und alle Wasser vom Luftraum sich darin ergießen und dadurch weder eine Verminderung noch ein Vollwerden des großen Meeres wahrzunehmen ist" -
eben so ist es auch mit dem heiligen Gleichmut.

Heiliger Gleichmut - oder wie wir auch sagen mögen: der gleichmütige Heilige - ist die Innere Mitte der Dinge. Wohl unterschieden sei sie von den vielen relativen Mittelpunkten stofflicher und geistiger Kraftfelder, welche, sich wandelnd, auch ihren Mittelpunkt verlegen. Die Innere Mitte des heiligen Gleichmutes ist unerschütterlich, denn sie ist unverstörbar von außen. Sie ist unverstörbar von außen, weil sie ohne Hangen ist. - Für das, was abhängig ist, gibt es auch Bewegung; für das, was nicht abhängig ist, gibt es keine Bewegung; wo keine Bewegung ist, ist Ruhe; wo Ruhe ist, da ist kein Verlangen; wo kein Verlangen ist, da ist kein Kommen und Gehen; wo kein Kommen und Gehen ist, ist kein Vergehen und Neu-Entstehen; wo kein Vergehen und Neu-Entstehen ist, ist weder ein Hienieden noch ein Jenseits, noch ein Etwas zwischen den beiden. Eben dies ist das Ende des Leidens."



 

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