HOME Bitte beachten Sie, dass die Texte mit "Arial Unicode MS" gezeigt werden müssen.
Anderenfalls können die Sonderzeichen nicht korrekt dargestellt werden. [als ZIP-Datei].

Der zerbrochene Buddha

3. Der Vinaya

 

Der Vinaya ist der zweite Teil des Pāli-Kanons und enthält die 227 Regeln der Mönche, die sie befolgen sollten und die Prozeduren für die Ordnung innerhalb monastischer Gemeinschaften. Ein anderer Abschnitt des Vinaya enthält die 311 Regeln der Nonnen. Westler und natürlich auch viele asiatische Theravādins glauben, dass die Mönche all diese Regeln befolgen. Dem ist nicht so, und es ist nur vernünftig, dass es nicht so ist. Viele Regeln sind außerhalb des ursprünglichen indischen Kontextes, in dem sie aufgestellt wurden, irrelevant oder bedeutungslos. Was wirklich passiert ist, dass die Mehrheit der Mönche Regeln befolgen, die traditionell befolgt wurden und Regeln ignorieren, die traditionell nicht befolgt wurden. Es ist schwer, in der Auswahl der Regeln ein Muster zu entdecken. So werden einige sehr nützliche Regeln komplett ignoriert, während andere scheinbar nutzlose Regeln gewissenhaft befolgt werden. Noch einmal, bestimmte Regeln werden sehr genau befolgt, aber auf eine geistlose oder mechanische Art. Andere wiederum werden auf eine Art befolgt, die jeglicher Logik und jeglichem Sinn zu trotzen scheint. Da wäre z.B. die überwältigende Mehrheit der Mönche, die mit Geld umgehen. Sie kaufen, verkaufen, sie besitzen ein Bankkonto, sie akzeptieren Spenden - manchmal verlangen sie sogar welche - und, obwohl dies gegen den Vinaya verstößt, wird dies als normal betrachtet. Manche eher pedantische Mönche bestehen darauf, dass man ihnen das Geld nur in einem Umschlag überreicht, um so den physischen Kontakt mit dem Geld zu vermeiden. Das steht im Einklang mit den Buchstaben der Regel, ignoriert aber völlig den Sinn, der hinter dieser Regel steht. Ich kannte einen Mönch, der aus dem gleichen Grund ständig eine Pinzette mit sich führte - so konnte er die Geldspenden annehmen und zählen, ohne das Geld direkt zu berühren. Mönche sollen nachmittags keine Milch zu sich nehmen, was dem Vinaya entspricht, in Thailand aber essen die Mönche nachmittags Käse, was dem Vinaya klar widerspricht. Nahezu alle Mönche erwarten, dass ihnen das Essen in formeller Übereinstimmung mit dem Vinaya gereicht wird, aber wenn Laien dies vergessen, werden die Mönche sie darauf hinweisen. Das ist ein Bruch mit der Vinaya-Regel, denn es ist Mönchen nicht erlaubt, um etwas zu bitten. In besseren Klöstern werden regelmäßig zwei Mal im Monat Zeremonien abgehalten, während der die Mönche Gelegenheit haben sollen, sich zu Regelverstößen oder Fehlverhalten zu bekennen. Diese Zeremonie könnte für die persönliche Entwicklung der Mönche und für das Zusammenleben in der Gemeinschaft von großem Wert sein. Leider wird diese Zeremonie größtenteils nur oberflächlich durchgeführt. Dabei werden die Worte der Zeremonie nur rezitiert, ohne dass ein echtes Bekenntnis oder Vergebung stattfindet. Das einzig wahrnehmbare Muster, nach dem Regeln beachtet oder nicht beachtet werden, ist, dass Regeln beachtet werden, die den übergeordneten Status der Mönche gegenüber den Laien untermauern. Diese Regeln werden immer befolgt und es wird mit größter Überzeugung auf ihre Einhaltung bestanden. Obendrein gibt es noch eine Anzahl von gebräuchlichen Praktiken, die nicht Teil des Vinaya sind, aber als solche behandelt werden, ja als heilig gelten. So akzeptieren thailändische Mönche einerseits Geldgeschenke, obwohl es gegen die Vinaya-Regel verstößt, andererseits weigern sie sich, etwas direkt aus der Hand einer Frau anzunehmen, was keine Bedingung des Vinaya ist. Während sich niemand daran stößt, wenn ein Mönch Geld annimmt, so riskiert er, wenn er etwas von Frauen direkt annimmt, extreme Missbilligung oder sogar den Ausschluss aus dem Orden. Eine weitere Komplikation ist die, dass die traditionell befolgten oder nicht befolgten Regeln und die gebräuchlichen Praktiken von Land zu Land, manchmal sogar von Region zu Region wechseln. Thailändische Mönche z.B. kritisieren ihre burmesischen Kollegen, die ihre Robe so tragen, dass immer eine Schulter unbedeckt bleibt. Singhalesische Mönche benutzen Bettelschalen aus Aluminium, was thailändische Mönche als Verstoß gegen den Vinaya betrachten.

Die Realität ist, dass der Saṅgha über Jahrhunderte hinweg nahezu automatisch funktionierte und die leitende Triebfeder des mönchischen Verhaltens ist nicht der Vinaya oder der Dhamma, sondern die seit langem etablierten Traditionen. Einige dieser Traditionen sind ursprünglich aus dem Vinaya entstanden und stimmen mit ihm überein. Einige sind praktisch und vernünftig, viele sind unsinnig. Einige können sehr nützlich sein, wenn sie mit Weisheit praktiziert werden, ein paar sind ausgesprochen schlecht. Die überwältigende Mehrheit der Mönche geht mit traditionellen Verhaltensregeln konform, wenigstens wenn sie von den Laien beobachtet werden. Ansonsten leben sie ihr Leben und setzten sich nur wenig oder gar nicht mit dem Dhamma oder Vinaya etwas anderem auseinander. Eine viel kleinere Zahl von aufrichtigen Mönchen reagiert verständlicherweise auf diese Lethargie der Mehrheit und versucht, jede Regel mit fast fanatischer Exaktheit zu befolgen. Leider führt das zu den Problemen, die ich weiter unten erläutern will. Eine sogar noch geringe Anzahl von ebenso aufrichtigen, aber vielleicht umsichtigeren Mönchen ist dazu in der Lage, die allgemeine Absicht des mönchischen Lebens zu sehen - ein achtsames und diszipliniertes Verhalten, das zur Erkenntnis führt - und versucht ihr Bestes Mönch zu sein, auch wenn sie notwendigerweise nicht jede Regel wortwörtlich befolgen.

 

 

zurück weiter