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Der zerbrochene Buddha

5. Der Buddha und die Regeln

 

Auch Thanissaro erkennt an, dass der Vinaya in der heutigen Version nicht vom Buddha gelehrt worden ist. Er sagt; "Historiker schätzen, dass der Vibhaṅga und Khandhaka ihre gegenwärtige Form nicht später als im 2. und 3. Jh. v.u.Z. erreichten, und dass der Parivāra oder Addenda - eine Zusammenfassung und ein Studienführer in späteren Jahrhunderten hinzu gefügt wurden …" Wenn der Buddha vom Vinaya spricht, wie z.B. im Ausdruck Dhamma-Vinaya, bezieht er sich nicht auf den Vinaya-Piṭaka, genauso wie er, wenn er über den Abhidhamma spricht, sich nicht auf den Abhidhamma-Piṭaka bezieht. Der Vinaya in seiner gegenwärtigen Form entstand nicht während der Lebenszeit des Buddha, was auch für den Abhidhamma gilt. Für den Buddha war der Vinaya (Disziplin) genau das: diszipliniertes, achtsames Verhalten, das mit dem Dhamma im Einklang steht, und nicht das komplexe Regelwerk, das sich in den Jahrhunderten nach dem Tode des Buddha allmählich entwickelte. Wir wissen nicht, was der erste Pātimokkha war, aber es bestand fast sicher aus einer Sammlung von Versen aus Buddhas Lehren, war also keine Sammlung von Regeln. Sicher gab es während der Lebens- und Lehrzeit des Buddha Regeln. Die meisten von ihnen ähnelten oder glichen denen von anderen Wanderasketen. Der Vinaya-Piṭaka zeigt erwiesenermaßen die Merkmale einer späteren Entstehung. Nehmen wir z. B. die Regel, sich während der Monsun-Zeit nur an einem Ort aufzuhalten. Es ist bekannt, dass Wanderasketen dies schon Jahrhunderte vor dem Buddha taten. Es war weniger eine strenge und feste Regel als eine Konvention, die lediglich aus Bequemlichkeit befolgt wurde. Während der Entstehungszeit des Vinaya hatte sich diese Konvention zu einer Regel verhärtet, und ihr Ursprung war völlig in Vergessenheit geraten. Konsequenterweise ist die Geschichte, die erklärt, warum es diese Regel gab, nicht überzeugend. Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Der Vinaya erlaubt Jungs im Alter von acht Jahren, als Mönche zu ordinieren. Es scheint, dass dies im Gegensatz zu dem steht, was wir über den Buddha wissen. Er und seine Schüler kehrten der Welt den Rücken, weil sie fest entschlossen waren, sich selbst zum Wohl aller Lebewesen aus dem Saṃsāra zu befreien. Sich voll ihrer Taten bewusst, entsagten sie allen gesellschaftlichen Erwartungen und Normen und wanderten hinaus, um die Wahrheit zu finden. Ist es wirklich möglich, dass ein Kind von acht Jahren so denkt und so fühlt? Die Ordination kleiner Jungen suggeriert, dass es schon zur Zeit der Entstehung des Vinaya völlig normal war, ein Mönch zu werden, und dass das Mönchsein, zumindest für einige Menschen, eine Konvention war oder sogar der Karriere diente. Aber selbst wenn der Vinaya in seiner jetzigen Form vom Buddha stammen würde, wäre damit das Leben im London oder Los Angeles des 21. Jh. u.Z. mit Regeln, die aus dem 3. und 2. Jh. v.u.Z. stammen, weder praktisch noch angemessen. Pācittiya 56 z.B. verbietet einem Mönch, ein Feuer anzuzünden, sofern er nicht krank ist. Der Überlieferung zufolge sollen einige Mönche eines Tages in einer kalten Winternacht ein Feuer mit einem alten Baumstamm gemacht haben. In diesem alten Baumstamm lebte aber eine Kobra, die heraus sprang und die Mönche fast zu Tode erschreckte. Ist es für einen Mönch, der im Toronto des Jahres 2002 lebt, vernünftig, nicht die Zentralheizung anzustellen (oder einen Laien durch Hinweise oder Andeutungen dazu zu bringen, es für ihn zu tun), nur weil vor 2500 Jahren in Nord-Indien einige Mönche von einer aus einem brennenden Baumstamm gesprungenen Schlange zu Tode erschreckt wurden? Ein Theravādin würde argumentieren, dass es so ist. Es ist doch sicher für jemanden möglich, eine andere Meinung zu diesem Thema zu haben, ohne dass man Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit hat?

Werfen wir einen Blick auf die Einstellung des Buddha in Bezug auf Regeln. Im Mahāparinibbāna-Sutta sagt er: "Wenn ihr wollt, kann der Saṅgha geringere Regeln nach meinem Tod verwerfen" (D, II, 154). Das scheint vernünftig zu sein. Regeln werden gemacht, um gewissen Umständen Rechnung zu tragen, und wenn sich die Umstände ändern, müssen sich die Regeln entsprechend anpassen. Die Krux dieses Zitats ist, dass Uneinigkeit darüber herrscht, was eine wichtige und was eine unwichtige Regel ist. Für die meisten Menschen wären die Unterschiede zwischen den beiden ziemlich klar. Vom Töten (Pārājika 3) oder Stehlen (Pārājika 2) abzustehen, sind, würde ich meinen, zwei sehr wichtige Regeln. Auf einem Bett zu liegen, welches abnehmbare Füße hat (Pācittiya 18), oder der Besitz einer Matte aus schwarzer Wolle (Nissagiya Pācittiya 12) sind, meine ich, relativ unwichtige Regeln, wahrscheinlich für heutige Verhältnisse irrelevant. Der Vinaya erzählt, dass während des ersten Konzils, als die Frage nach den unwichtigen Regeln zur Diskussion anstand, nicht einer der 500 Arahats sich vorstellen konnte, welche Regel denn wichtig sei und welche nicht, und so beschloss man, keine von ihnen zu ändern. Dies ist wieder eine echte Theravāda-Geschichte, aber es sagt leider wenig über die vermutete Einsicht und Weisheit der Arahats aus. Im Sappurisa-Sutta sagt der Buddha: "Sagen wir, eine schlechte Person ist ein Vinaya-Experte und sie denkt: 'Ich bin Vinaya-Experte und die anderen sind es nicht', und sie wird sich selbst loben und die anderen herabsetzen. Dies ist der Dhamma einer schlechten Person. Aber eine gute Person denkt so: 'Es reicht nicht aus, Vinaya-Experte zu sein, wenn man Gier, Hass und Verblendung zerstören will. Auch wenn man kein Vinaya-Experte ist, kann man doch im Einklang mit dem Dhamma praktizieren, kann man korrekt praktizieren und gemäß dem Dhamma leben, um so der Verehrung und des Respekts würdig zu sein.' Geht er auf diese Weise vor, ist es am wichtigsten, dass er weder sich selbst lobt, noch er andere herabsetzt. Dies ist der Dhamma einer guten Person" (M, III, 39). Das ist genau das, was man vom Buddha erwartet. Während bestimmte Regeln eine ethische Konsequenz haben und mit großer Sorgfalt befolgt werden sollten, haben Regeln, die lediglich die Etikette und das reibungslose Miteinander im Saṅgha gewährleisten sollen, keine ethische Bedeutung und können nach Bedarf verändert werden. Wenn ein Mönch oder eine Nonne "den Weg selbst zur Hauptsache macht", praktiziert er oder sie Buddhas Lehren. Einst kam ein Mönch aus dem Hause der Vajjas zum Buddha und gestand, nicht alle Regeln befolgen zu können. Der Buddha antwortete: "Kannst du dich in höherer Tugend, in höherer Geistesschulung und in höherem Verständnis üben?" "Das kann ich tun", sagte der Mönch. Dann sagte der Buddha, "Dann übe diese drei Dinge. Wenn du das tun kannst, werden sich Gier, Hass und Verblendung auflösen und du wirst nichts Ungeschicktes mehr tun oder dich an bösen Taten beteiligen" (A, III, 85). Auch hier scheint der Buddha zu sagen, dass wenn ein Mönch oder eine Nonne den Dhamma mit Aufrichtigkeit und Integrität befolgt, er oder sie den Geist entwickelt, ob er oder sie nun den Vinaya praktiziert oder nicht.

 

 

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